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Samstag, 10. April 2021

Chaos und Creation

Seit einigen Wochen ist in unserer Schule der Wechselunterricht eingezogen. Es ist ein Kompromiss, dass die Schüler wenigstens alle 14 Tage mit der Hälfte ihrer Klasse richtigen Unterricht haben können.

14 ist die Zahl der Stunde. Ich hab jede Stunde 12 SchülerInnen für 2 Stunden. 14 Gruppen. Und alle 14 Gruppen müssen in die Schulcloud ihre Aufgabenblätter für die Distanzschüler (Gruppe 1) vor dem Unterricht und die Powerpoint nach dem Unterricht der Präsenz-Gruppe II hochgeladen bekommen.  Oder eben andersherum. Es klingt nicht nur kompliziert. Es ist auch so.


Das heißt, alle Klassenlehrer haben ihr Klasse halbiert und dabei nach Möglichkeit auf die Wünsche der SchülerInnen Rücksicht genommen ("Ich will aber nicht mit dem Max zusammen!" oder "Ich muss unbedingt die Sophia dabei haben! Aber nicht den Elias!" - "Doch, den will ich aber!"). Es muss die Quadratur des Kreises gewesen sein, was da geleistet wurde, denn jedem war klar, dass dieses Modell nicht nur für drei Wochen angedacht war, sondern über Monate hinweg. Das ist für Kinder schon fast eine Scheidungserfahrung, da sie die Hälfte ihrer Mitschüler jetzt viele Monate hinweg nicht mehr treffen, und sie ja zuvor monatelang schon nicht gesehen haben. 

Manche Lehrer haben einfach die Halbierung der Klasse vom Informatikunterricht zur Hand genommen und diese nochmals halbiert und dann das erste Viertel mit dem dritten zusammengelegt und das zweite mit dem vierten. 

Für mich war es egal - ich kannte die Kinder sowieso nicht persönlich und hatte schon im Distanzunterricht immer nur Namen genannt und Kinder gehört, ohne zu wissen,wie sie aussahen, die da sprachen. Wenn mehr als einer seine Kamera anmachte, flog man oftmals raus. Manchmal auch einmal so. Mehrfach in der Stunde. Ohne Vorwarnung. 

Da gerade Ostern war, hier noch der Running Gag in meiner Whatsapp-Gruppe: Jesus fragt beim Zoom-Meeting des letzten Abendmahls seine Jünger: "Hört ihr mich jetzt alle gut? Oh, Jacobus und Petrus sind auch schon wieder rausgeflogen."

Screenshot: twitter.com/Jon Brown@beardandbible

Spaß beiseite. Also, ich hatte Wechselunterricht ab 15. März. Und schon in der kurzen Zeit verlor ich schnell den Überblick: aus sieben Klassen wurden 14 Gruppen. Und jede Gruppe ist unterschiedlich schnell. Man muss sich also eine gute Übersicht machen, und trotzdem ist es nicht so einfach, weil ich gleich drei 6. Klassen habe und zwei 5. Klassen - und zwar sowohl Gymnasialklassen als auch Oberschulklassen mit jeweils eigenen Lehrwerken. Ich jongliere also mit 14 Gruppen, 5 Schulbüchern, 3 Atlanten. In mancher Klasse haben einzelne Kinder einen anderen Atlas als ihre Mitschüler. Einige Kinder kamen nicht in den Präsenzunterricht, weil sie oder die Eltern nicht mit den verpflichtenden Selbsttests einverstanden waren. 14 bunte Kugeln, und ich hab das Gefühl, ich kann dem Individuum gar nicht mehr gerecht werden.

Welche von denen waren nun schon bei Energiewirtschaft der Küste und welche noch bei Fischereiwirtschaft? War die Gruppe II von der 6c die mit dem Kind, das den weißen Atlas hatte? Und wo bin ich mit Gruppe I der 5b stehengeblieben, die nicht so schnell war wie die Gruppe I vor einer Woche? Was ist mit Henry in Quarantäne, den kann ich bei diesem Thema schlecht zuschalten, also extra Aufgabenzettel schreiben. 

Dutzende Mails. Lehrer mit Informationen über zu Hause bleibende Schüler, die dann wohl doch noch kommen, Fachbereichsleitungen mit LAAAANGEN E-Mails voller AKTUELL! WICHTIG! TEST! NICHT VERGESSEN! und Dutzenden Anhängen, die teilweise ausgedruckt und unterschrieben werden müssen. Rückfragen von verwirrten Kindern. Verwechslungen von Atlantenseiten. Eltern mit Nachfragen wegen der Benotung der letzten Langzeitaufgabe. Verwechslungen von Gruppen, denen ich für den soundsovielten den Geografietest angekündigt hatte. Irgendwann muss man ja zu seinen Noten kommen, also quetsche ich die Tests für alle 14 Gruppen in die wenigen Wochen nach Ostern, bevor möglicherweise oder voraussichtlich die Schule wieder schließen muss. Kein Wunder, dass man da auch Fehler macht. Trotzdem peinlich. Es ist, als ob man beim Billard die Schwarze versenkt.

Ich hoffe nun, dass die Tests gut über die Bühne gehen. Und für diejenigen, die nicht am Präsenzunterricht teilnehmen, hab ich ein besonderes Schmankerl: sie dürfen sieben Seiten im Arbeitsheft durchackern und schauen, wie weit sie in 45 min kommen und mir das dann einscannen und hochladen.

Ich muss dieser Tage oft an die Zeilen aus dem Song "Fine Line" denken.

Whatever's more important to you
You've gotta choose what you want to do
Whatever's more important to be
Well that's the view that you got to see

There is a long way
Between chaos and creation
If you don't say
Which one of these you're going to choose
It's a long way
And if every contradiction seems the same
It's a game that your bound to lose

Ich habe nicht vor, das Spiel zu verlieren. Ich nutze die Chance der halben Klasse.

In den 6. Klassen habe ich ein Planspiel über den Umbau von Paris 1853-70 durchgeführt - mit großem Erfolg! Die SchülerInnen bekamen alle eine Rolle und ein Infoblatt und haben dann als Architekt, König, Verkehrsminister, Militärgouverneur, Käsehändler, Tuchhändler, reicher Bürger, armer Künstler oder Arzt "gearbeitet" und ihre Position dazu kund getan, dass der neue Präfekt Baron Haussmann 20.000 Häuser abreißen und Boulevards anlegen will. Die Kinder waren voll bei der Sache und werden beim nächsten Parisbesuch bestimmt daran denken.

Charles Soulier, Panorama de Paris_Pris de la tour Saint Jacques, ca. 1865, Library of Washington, https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Charles_Soulier,_Panorama_de_Paris_-_Pris_de_la_tour_Saint_Jacques,_ca._1865.jpg

 In den 5. Klassen habe ich die Wiederholung der geografischen Fakten in ein Rätselspiel gekleidet. Die 12 Kinder wurden in zwei Gruppen geteilt und sind gegeneinander angetreten. Sie mussten von jedem Kontinent 1 Tier wählen, und hinter jedem Tier befand sich eine Frage, die irgendwie das Tier mit unseren Stundeninhalten verknüpfte. Es gab viel Spaß. 


 Meine Lieblingsfrage steckte hinter dem Löwen:

Der Löwe ist in Zentralafrika beheimatet. Wie weit ist dieses Land von Dresden entfernt, wenn bei einem Maßstab von 1:40.000.000 die Luftlinie 20 cm beträgt?

 Die eine Gruppe ging mit dem Spiel so mit, dass sie kurz johlten wie auf dem Fußballplatz. Die Tür zum Nachbarzimmer ging kurz auf, aber die Kollegin sagte zum Glück nichts. Ich werde in dieser Schule noch als Radaulehrerin berühmt. Peinlich. Aber ein bisschen Spaß muss sein...

Freitag, 2. Juni 2017

Eine Zeitreise ins "richtig alte" Dresden


Wer in Dresden ist, will gern wissen, wie die Stadt vor dem Krieg aussah. Im Johanneum wird regelmäßig ein Film aus den 1930er Jahren gezeigt. Vielleicht will man aber auch wissen, wie die Stadt noch viel früher aussah? Das könnte man auch zeigen.


1811 zeichnete der Künstler Friedrich August Kannegießer 90 Ansichten der Dresdner Festungswerke. Dazu ging er einmal rings um die Stadt und hielt etwa alle 100 Meter die Festungsmauer aus immer neuen Perspektiven fest. 1890 sind diese Zeichnungen noch einmal als Lichtdrucke verlegt worden. Die Städtische Galerie hat eine kolorierte Bilderserie in ihrem Bestand. In den Antiquariaten gibt es nur noch sehr wenige Exemplare dieser Sammlungen, oft mit Mängeln. Leider haben die Schachteln bzw. die Bilder immer sehr gelitten, oder es fehlen die zwei Stadtpläne, auf denen mit Punkten die Standorte Kannegießers verzeichnet sind.
Nach langen Recherchen und Qualitätsvergleichen in Antiquariaten habe ich mich nun durchgerungen, mir ein Exemplar der Bilderserie zu kaufen.
Warum ist diese Bildquelle für Stadthistoriker so wertvoll? Vier Gründe will ich anführen.

Erstens: Es ist die unsichtbare Welt des richtig alten Dresdens und verweist auf ein spannendes Stück Stadtgeschichte.
Die Stadtbefestigung wurde wenige Jahre, nachdem Kannegießer sie gemalt hatte, planmäßig abgerissen. Eine "Demolitionskommission" mit den klügsten Köpfen entschied, wie die Stadt hinterher aussehen sollte. Auf Altstädter Seite ist lediglich die Brühlsche Terrasse als Rest der alten Stadtmauer noch stehen geblieben, auf Neustädter Seite kündet noch der Hügel am Japanischen Palais von einer früheren Bastion. Unterhalb der Brühlschen Terrasse kann man die Kasematten der Festung Dresden besuchen, die gerade zu einem großen Erlebnismuseum ausgebaut werden. Kaum noch sichtbar sind also die Spuren der riesigen Mauern, die einmal die Stadt schützten. Die Stadtbefestigung war ein gigantisches Bauwerk, das in mehreren Wellen entstand: die mittelalterlichen Palisadenbauten wurden in den Hussitenkriegen um eine Vormauer ergänzt. Herzog Georg veranlasste in der Reformationszeit eine planmäßige Stadtbefestigung, die in der nächsten Generation unter seinen Neffen  Moritz und August zu einer Festung mit Bastionen erweitert wurde. August der Starke benannte die Bastionen später nach Planeten um - symbolhaft im Sinne seiner absolutistischen Regentschaft mit dazugehöriger Hofkultur, die auch die Befestigung einbezog  - denkt man an den Zwingerbau, der auf dem Festungsareal entstand. Schon unter ihm gab es Pläne, die Festungen zu schleifen. Die Mauern hätten im Ernstfall längst nicht mehr der neuen Waffentechnik standgehalten und behinderten den Städtebau. Aber es sollte noch etwas dauern, bis im Zuge der Französischen und der Industriellen Revolution ein frischer Geist auch die alten Mauern davonblies. Für die gestiegene Bevölkerungszahl und die Verkehrsinfrastruktur waren die Mauern wie ein zu enges Korsett. In fast allen Großstädten legte man im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Wälle nieder. Die Trassen wurden oft zu Promenaden oder Hauptstraßen. Viele Maler hielten den Umbau der Städte fest, aber eine so detaillierte Rundum-Ansicht aus dieser Zeit dürfte nicht allzu häufig sein.
Zweitens: Auf den Bildern ist ein anderes Dresden zu sehen: so gut wie keine Frauenkirche, keine üblichen Verdächtigen, sondern ein Bild von der Hinterbühne der Stadt. Kannegießer hat auf den Bildern nämlich auch den Alltag festgehalten: Spaziergänger mit Hündchen, Wachen am Stadttor, Lastkähne auf der Elbe, Gefangene im Baugefangenenhof und wie sie die Kotkübel der Bastionen zur Leerung in die Kanäle tragen, Witwen, die Wäsche bleichen, spielende Kinder, Laternenanzünder, Fischer, die im Stadtgraben ihr Netz auswerfen, ein Pärchen, Gemüseverkäufer, zwei Frauen mit Laternen... Wie in einem Brennglas sieht man die Sozialgeschichte der Stadt.


Der Künstler hat die Morgen- und Abendstunden zum Malen genutzt, damit die Festungsmauern schöne lange Schatten warfen. Kannegießer war seines Zeichens Maler bei der Porzellanmanufaktur Meißen.

Drittens: Ein ganz persönlicher Reiz liegt im Detail eines verschwundenen Kunstwerks. Auf einer Ansicht ist ein an der Festungsmauer angebrachtes Relief mit einem sächsisch-dänischen Allianzwappen zu sehen , das es heute nicht mehr gibt. Es ist mir trotz intensiver Suche (Landesamt für Denkmalpflege, Lapidarium etc.) nicht gelungen, noch eine Spur zu diesem Wappen zu finden. Offenbar ist es im Zuge der Entfestigung einfach mit zerstört worden.


Viertens: Der größte Wert dieser Bilder besteht für mich aber darin, dass die Orte heute völlig anders aussehen. Die Mauern sind weg, fast alle Gebäude ebenso. Es ist wie ein Rätsel, sich die Orte auf dem Bild anzuschauen und dann zu vergegenwärtigen, wie die Stelle heute aussieht. Dort, wo der Laternenanzünder ein Pfeifchen schmauchte, steigt man heute am Postplatz, dem Straßenbahn-Verkehrsknotenpunkt, aus und geht über eine Ampel zu einem Bäcker. Dort, wo der Mann auf seinem Handkarren Säcke davonfährt, geht man heute ins Karstadt hinein. Der ehemalige Stadtgraben ist heute eine vierspurige Verkehrsader mit Straßenbahntrasse.

Aus dieser Quelle könnte man sehr viel machen, aber leider ist den Stadthistorikern das Potential dieser Bilderserie noch nicht ganz bewusst, obwohl die entsprechenden Institutionen diese Quelle alle kennen.  Einige Ideen hätte ich da schon...Eine virtuelle Reise ins "richtig alte" Dresden muss keine Fiktion bleiben!