Wer in Dresden ist, will gern wissen, wie die Stadt vor dem Krieg aussah. Im Johanneum wird regelmäßig ein Film aus den 1930er Jahren gezeigt. Vielleicht will man aber auch wissen, wie die Stadt noch viel früher aussah? Das könnte man auch zeigen.
1811 zeichnete der Künstler Friedrich August Kannegießer 90 Ansichten der Dresdner Festungswerke. Dazu ging er einmal rings um die Stadt und hielt etwa alle 100 Meter die Festungsmauer aus immer neuen Perspektiven fest. 1890 sind diese Zeichnungen noch einmal als Lichtdrucke verlegt worden. Die Städtische Galerie hat eine kolorierte Bilderserie in ihrem Bestand. In den Antiquariaten gibt es nur noch sehr wenige Exemplare dieser Sammlungen, oft mit Mängeln. Leider haben die Schachteln bzw. die Bilder immer sehr gelitten, oder es fehlen die zwei Stadtpläne, auf denen mit Punkten die Standorte Kannegießers verzeichnet sind.
Nach langen Recherchen und Qualitätsvergleichen in Antiquariaten habe ich mich nun durchgerungen, mir ein Exemplar der Bilderserie zu kaufen.
Warum ist diese Bildquelle für Stadthistoriker so wertvoll? Vier Gründe will ich anführen.
Erstens: Es ist die unsichtbare Welt des richtig alten Dresdens und verweist auf ein spannendes Stück Stadtgeschichte.
Die Stadtbefestigung wurde wenige Jahre, nachdem Kannegießer sie gemalt hatte, planmäßig abgerissen. Eine "Demolitionskommission" mit den klügsten Köpfen entschied, wie die Stadt hinterher aussehen sollte. Auf Altstädter Seite ist lediglich die Brühlsche Terrasse als Rest der alten Stadtmauer noch stehen geblieben, auf Neustädter Seite kündet noch der Hügel am Japanischen Palais von einer früheren Bastion. Unterhalb der Brühlschen Terrasse kann man die Kasematten der Festung Dresden besuchen, die gerade zu einem großen Erlebnismuseum ausgebaut werden. Kaum noch sichtbar sind also die Spuren der riesigen Mauern, die einmal die Stadt schützten. Die Stadtbefestigung war ein gigantisches Bauwerk, das in mehreren Wellen entstand: die mittelalterlichen Palisadenbauten wurden in den Hussitenkriegen um eine Vormauer ergänzt. Herzog Georg veranlasste in der Reformationszeit eine planmäßige Stadtbefestigung, die in der nächsten Generation unter seinen Neffen Moritz und August zu einer Festung mit Bastionen erweitert wurde. August der Starke benannte die Bastionen später nach Planeten um - symbolhaft im Sinne seiner absolutistischen Regentschaft mit dazugehöriger Hofkultur, die auch die Befestigung einbezog - denkt man an den Zwingerbau, der auf dem Festungsareal entstand. Schon unter ihm gab es Pläne, die Festungen zu schleifen. Die Mauern hätten im Ernstfall längst nicht mehr der neuen Waffentechnik standgehalten und behinderten den Städtebau. Aber es sollte noch etwas dauern, bis im Zuge der Französischen und der Industriellen Revolution ein frischer Geist auch die alten Mauern davonblies. Für die gestiegene Bevölkerungszahl und die Verkehrsinfrastruktur waren die Mauern wie ein zu enges Korsett. In fast allen Großstädten legte man im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Wälle nieder. Die Trassen wurden oft zu Promenaden oder Hauptstraßen. Viele Maler hielten den Umbau der Städte fest, aber eine so detaillierte Rundum-Ansicht aus dieser Zeit dürfte nicht allzu häufig sein.
Zweitens: Auf den Bildern ist ein anderes Dresden zu sehen: so gut wie keine Frauenkirche, keine üblichen Verdächtigen, sondern ein Bild von der Hinterbühne der Stadt. Kannegießer hat auf den Bildern nämlich auch den Alltag festgehalten: Spaziergänger mit Hündchen, Wachen am Stadttor, Lastkähne auf der Elbe, Gefangene im Baugefangenenhof und wie sie die Kotkübel der Bastionen zur Leerung in die Kanäle tragen, Witwen, die Wäsche bleichen, spielende Kinder, Laternenanzünder, Fischer, die im Stadtgraben ihr Netz auswerfen, ein Pärchen, Gemüseverkäufer, zwei Frauen mit Laternen... Wie in einem Brennglas sieht man die Sozialgeschichte der Stadt.
Der Künstler hat die Morgen- und Abendstunden zum Malen genutzt, damit die Festungsmauern schöne lange Schatten warfen. Kannegießer war seines Zeichens Maler bei der Porzellanmanufaktur Meißen.
Drittens: Ein ganz persönlicher Reiz liegt im Detail eines verschwundenen Kunstwerks. Auf einer Ansicht ist ein an der Festungsmauer angebrachtes Relief mit einem sächsisch-dänischen Allianzwappen zu sehen , das es heute nicht mehr gibt. Es ist mir trotz intensiver Suche (Landesamt für Denkmalpflege, Lapidarium etc.) nicht gelungen, noch eine Spur zu diesem Wappen zu finden. Offenbar ist es im Zuge der Entfestigung einfach mit zerstört worden.
Viertens: Der größte Wert dieser Bilder besteht für mich aber darin, dass die Orte heute völlig anders aussehen. Die Mauern sind weg, fast alle Gebäude ebenso. Es ist wie ein Rätsel, sich die Orte auf dem Bild anzuschauen und dann zu vergegenwärtigen, wie die Stelle heute aussieht. Dort, wo der Laternenanzünder ein Pfeifchen schmauchte, steigt man heute am Postplatz, dem Straßenbahn-Verkehrsknotenpunkt, aus und geht über eine Ampel zu einem Bäcker. Dort, wo der Mann auf seinem Handkarren Säcke davonfährt, geht man heute ins Karstadt hinein. Der ehemalige Stadtgraben ist heute eine vierspurige Verkehrsader mit Straßenbahntrasse.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen