Mittwoch, 14. Juni 2017

Erlebnisse im Archiv

Man kann einem Anderen schwerlich die Faszination eines Archivs nahebringen, wenn er nicht selbst dort gewesen ist, die alten Originale berührt und den Atem der Geschichte gespürt hat.
Die seltsame Atmosphäre zwischen den Akten und ihren Lesern einzufangen, ist Arlette Farge in ihrem kleinen Büchlein "Der Geschmack des Archivs" wunderbar gelungen. Obwohl es nur einen Teil der Wahrnehmungen einfängt. 


Stets sieht man morgens die gleichen, stillen Gesichter. Den Militärhistoriker mit Geheimratsecken, die Doktorandin mit ihrem frischen Schritt auf immer den gleichen Platz, das ältere Paar im Bemühen, gemeinsam leise flüsternd etwas über die Familiengeschichte zu entziffern, der Neuling, der kaum zu atmen wagt und sich vorsichtig mit einer (!) Akte in die letzte Reihe setzt. Man könnte die Reihe fortsetzen.
Es sind teilweise Spitzweg-Figuren, die einem im Archiv begegnen - mich nicht ausgenommen.
Man gewöhnt sich an, denselben Spind zu wählen, den optimalen Platz zu suchen und zu behaupten. Für mich war das immer nah am Lesesaal-Computer, damit ich mal fix was in der Datenbank recherchieren konnte, möglichst mit Platz nach allen Seiten und wenig Ablenkung - bloß keinen Fensterplatz, denn die Verführung, nach draußen zu schauen ist gar zu groß. Ganz zu schweigen von der blendenden Einstrahlung.
Im alten Lesesaal gab es zur "Unterhaltung" von Zeit zu Zeit Geräusche, wenn die hundert Jahre alte Heizung anging und vor sich hin klopfte. Warm wurde einem dennoch nie so richtig. Von Zeit zu Zeit hört man einen schniefen. Im Archiv ist es oft kühl, und stundenlanges Stillsitzen befördert den "Archivschnupfen". Der ist keine Einbildung. Ich war jetzt länger nicht dort, und seit meinem letzten Besuch habe ich ihn verloren.
Überhaupt - der alte Lesesaal! Schon der Eingangsbereich des Archivs war eine Schau. Granitstufen in einer Halle, orangefarbene Metallspinde an der Seite. Nur die Eingeweihten wussten, dass es in der Nähe des Lesesaals noch die alten Holzschränke gab, die natürlich ungleich mehr Aura hatten. Sie waren bei der "Vorzimmerdame", die eine Art Concierge-Dienst verrichtete. Um sie herum vielleicht zehn, und auf der Galerie über ihrem Kopf nochmal soviele Schränke, erreichbar über eine Holzstiege. Die waren immer als erstes belegt. Sogar ältere Herrschaften nahmen die Stufen in Kauf, um an so einen begehrten, historischen Schrank zu kommen. Somit konnte man wählen zwischen einem kleinen Metallschlüssel mit Plastiknummer oder einem schweren Schlüssel mit Holzkugel. Gewissermaßen Schränke zweiter und erster Klasse.
Dann am Empfang links der Eintritt in den Lesesaal. Eine hohe schmale Tür mit geschwungener Klinke, die tief hinunterzudrücken war. Erstaunlich leicht ging die Tür auf, und, war man durch, merkte man, wie schwer es war, sie geräuschlos zu schließen. Im Lesesaal hundert Jahre altes Holzmobilar. Große Eichentische in fünf Reihen mit Platz für 30 Leute. Leichte Holzlehnstühle mit Polsterung. Tische, die was zu erzählen hatten mit ihren Schrammen und tiefen Rillen. Für jeden Arbeitsplatz eine grüne Schreibtischunterlage aus Karton. Was mag nur all für Papier auf diesen Tischen gelegen haben! Wieviele karierte Sakkoärmel mit Ellenbogenschonern mögen auf diesen Tischen gelegen haben.... Man musste unter den Tisch kriechen, wenn man zur Steckdose wollte. Aber das war erst gegen Ende nötig, denn zuvor war das Abschreiben der Akten Usus, und man hörte statt des Klack-klack-klack der Tastatur ein vielfaches Rutschen von Bleistiften (!) - Geräusche wie in einer Klassenarbeit. Als die Laptops Einzug ins Archiv hielten, kam das einer Revolution gleich. Morgens hörte man mindestens einmal die Startmelodie eines Computer, spätnachmittags ebenso oft die Melodie, mit der die Laptops schlafen gingen. Dazwischen nur: klack-klack-klack. Schweres Atmen älterer Herrschaften. Hin und wieder ein Durchatmen oder Räuspern. Oder ein halbfreudiges "aha!", das dem Papier sagen sollte: "Jetzt hab ich dich!" Manchmal Selbstgespräche. Sehr viel gaben die Leser nicht von sich preis. Da war das Mobilar schon gesprächiger. Eine gelegentlich knarrende Wendeltreppe zu den Nachschlagewerken in der Galerie. Stühle, die vorwurfsvoll auf dem Linoleumboden gräßliche Geräusche machten, wenn man es sich bequem zu machen versuchte. Ein krachendes Geräusch, wenn jemand die immer klemmenden Stecker aus der Steckdose zerrte. Die Aufsicht saß an den zwei Enden des Raumes auf erhöhten Podestarbeitsplätzen. Grün/goldene, rundliche Tischlampen mit kleinen hängenden Stricken zum Anschalten. Sie gaben eine, ich will mal sagen: sparsame Beleuchtung. Doppelfenster mit dem dichten Blätterdach der kleingestutzten Bäume davor. Sie rauschten, wenn die Fenster im Sommer offen standen.
Dazu hörte man die Eingangstür zigmal am Tag schwer ins Schloss fallen. Unwillkürlich die Frage: Was wollen die bloß immer, die dauernd rein und raus gehen? Klar - alte Leute müssen mal. Immer öfter. Zwischen Metallspinden und Empfangsdame der Flur mit den Toiletten war ihr Ziel. Die Toilette mit dem Sprung in der Fliese am Waschbecken und dem kleinen Fensterchen...Im Flur gab es auch eine Sitznische mit dunkelhölzerner Eckbank. Wie oft habe ich dort in der Ecke, meine Schnitten kauend, zur Mittagspause ein Dossier der ZEIT gelesen! Und wie hab ich mich geärgert, wenn der Platz schon vergeben war. Dann hieß es: rausgehen, denn einen Pausenraum gab es nicht. Stattdessen aß ich mein Brot ein paar Minuten entfernt, auf einer Bank beim Bogenschützen mit Blick auf die Elbe. Auch nicht der schlechteste Platz. Dann wieder zurück ins Archiv. Das rechte Fenster offen - die rechte Aufsicht macht auch gerade Pause. Oder das linke Fenster offen - die linke Aufsicht hat Pause. Hinsetzen, weitermachen, nur unterbrochen vom Lauschen auf Gespräche, denn das leise Sprechen der Aufsicht konnte man nicht ausblenden, wenn neue Leser das Prozedere erklärt bekamen. Und vom Nachbarraum hörte man das Hin- und Herspulen der Rollfilme. Die Arbeit an den Lesegeräten ist ungesund, weil man entweder einen steifen Hals bekommt oder einem schwindlig wird (oder beides). Zugleich dauerte die Lektüre ungleich länger, weil auf den Filmen stets mehr war, als man eigentlich brauchte. Kaum war das umständliche Einfummeln des Filmstreifens geschafft, begann bei den ersten Bildern stets dasselbe: Man schaute hin, obwohl auf der Schachtel unmißverständlich stand, dass der gewünschte Abschnitt erst gegen Ende des Films zu erwarten war. Eigentlich könnte man gleich weit vorspulen. Aber der Lärm des Spulens ist ja so laut! Und es ist eine Verführung, zu sehen, was außer der eigentlich bestellten Akte  noch so auf dem Film ist. Wer könnte da widerstehen, wenn man die Akte mit der anderen Strichnummer doch schon mal vor sich hat! Ein Blick kann ja nicht schaden, worum es darin geht... "Ach, das ist ja interessant..." Eine halbe Stunde später stellt man fest, dass man gar nicht das liest, was man eigentlich sollte. Und der Blick auf die Uhr sagt einem, dass man das angestrebte Ziel heute wohl nicht mehr schaffen kann.

Im neuen Lesesaal ist es grau/weiß. Zwei Steckdosen in jedem Tisch leicht erreichbar. Moderne, kantige  Metalllampen, die ein sehr gutes Lesen ermöglichen. Saubere, aalglatte Tischoberflächen. Glastüren, die mit einem lauten Klacken von selbst aufspringen. Die Aufsicht, die in das hohe, lichte Foyer hinter einen Tresen verbannt wurde. Bahnhofsatmosphäre. Aber immerhin ein heller Raum, wo das Personal nun in normaler Gesprächslautstärke die Leser beraten kann und sowohl die Leser im Lesesaal als auch die Leser im Filmlesesaal im Blick haben, die jetzt ihren Krach in einem eigenen Raum austoben dürfen.
Nur eines ist gleich geblieben: die charmante Art der Aufsicht, fünf Minuten vor Schließung mit einem Glöckchen die Leser an das Ende des Arbeitstages zu erinnern. Und wie dann alle emsig ihre Siebensachen zusammenpacken. Bloß nicht zu langsam sein, damit man nicht anstehen muß. Aber man muss es wahrscheinlich trotzdem. "Das hier noch liegen lassen. Das andere brauch' ich nicht mehr." So  oder so ähnlich geht es. Damals wie heute. Dann verschwinden die stillen, grauen Gestalten hinaus ins Licht, ins Leben. Zu den angeschlossenen Fahrrädern, den Autos in der Nebenstraße der "Archivstraße".


Und zusammen mit dieser Atmosphäre verknüpft sind die Gefühle bei echten Entdeckungen. "Yes!", denkt man. Oder das Gefühl der Enttäuschung, wenn statt einer dicken, fetten Akte, nur ein paar Blättchen in einem Umschlag liegen. Als wäre Weihnachten ausgefallen. Oder das Gefühl, wenn man stutzig wird. Wenn man den Brief nochmal von vorn beginnen muss: "Irgendwo hier muss doch stehen, worauf der sich bezieht...?" Oder das Gefühl, das man spürt, wenn man Originale berühmter Leute in der Hand hält. Ehrfurcht: Das ist eine Urkunde von Barbarossa. Das ein Brief von Luther. Das eine Unterschrift von Bach. Unvergessen, wie ich die Handschrift von August dem Starken nur verstehen konnte, wenn ich sie mir leise selbst vorlas, denn er war Legastheniker und schrieb dermaßen sächsisch, und noch dazu sehr unleserlich, dass man eher von einer Lautschrift als von einer Handschrift sprechen kann. Und der innere Jubel, als ich seine Geheimschrift entschlüsselte. Aber das ist eine andere Geschichte.
So ist das Archivleben - zumindest habe ich es so erlebt. Ich liebe es, seit 2002.

Biographieforschung in Zeiten der Digitalisierung

Für Biographien zu recherchieren, ist kein leichtes Unterfangen. Zahllose Anlaufpunkte gilt es zu berücksichtigen. Heutzutage ist vieles schneller zu finden als früher, aber es besteht weiterhin noch Verbesserungsbedarf.
Die Recherche zu Mitgliedern der Sächsischen Akademie der Wissenschaften wird mich beruflich in den nächsten Jahren stark beschäftigen. Viele Namen aus der Wissenschaftsgeschichte sind mir geläufig. Es gibt Größen wie Heisenberg oder Planck, aber auch viele wenig bekannte, verdiente Wissenschaftler. Zu allen gibt es verstreute Quellen, die die SAW in einem virtuellen Archiv zusammenführen wird.
Begonnen habe ich mit dem Chemiker Peter Debye. Schon am Anfang zeigt sich, dass die Archive vieler Institutionen weder über Onlinefindbuch noch über Online-Suchfunktion verfügen. Glücklicherweise gibt es inzwischen aber das Biographie-Portal, den Verbundkatalog Kalliope sowie die Deutsche Digitale Bibliothek. Hier sind zahlreiche Quellen bereits verortet. Aus Übersee konnten manche Quellen ergänzt werden. Mit wenigen Klicks findet man bei der American Academy of Art and Sciences ein Dankschreiben Debyes für die Aufnahme in die Academy von 1927 - inklusive JPG. Soweit sind die deutschen virtuellen Archive noch nicht überall. Von den rechtlichen Hürden in der Kooperation und Online-Veröffentlichung ganz zu schweigen.
Leider sind auch die Normdaten der GND und die Geodaten noch nicht flächendeckend eingesetzt worden, um Personen und Orte zweifelsfrei zu identifizieren. Die internationale Vernetzung der Forschungsprojekte ist keine kleine Herausforderung.

Dienstag, 6. Juni 2017

Aus der Werkstatt: Ein Kinderbuch (Zeitreisebuch) zum Vorlesen

Christian Leberecht Vogel von Vogelstein: Die Kinder des Künstlers, 1793

Was fehlt, ist eine kindgerechte, in eine circa 100 Seiten lange, spannende Erzählung gepackte Heranführung an verschiedene Persönlichkeiten, gewissermaßen ein "Best of" in einem Vorlesebuch für 5-8jährige Kinder. Ein solches Buch, wie es mir vorschwebt und wie ich es bereits begonnen habe, entführt die Kinder in einer Rahmenhandlung zu Schauplätzen der Geschichte. Schauplätze allerdings, die nicht immer die bekanntesten sind. Und diese Geschichten werden aus mehr als einem Blickwinkel präsentiert. Es sind keine Schlachten, denn die Politikgeschichte soll hier etwas zurückstehen. Vielmehr sind es oft die kleinen Momente, die hinter den großen Ereignissen der Menschheitsgeschichte stehen. Welche genau thematisiert werden, soll hier (noch) nicht verraten werden. Es sollen jedenfalls nicht die schon weithin bekannten Anekdoten widergekäut werden, die scheinbar als einzige bisher für kindertauglich befunden wurden.
Der Clou: verschiedene Persönlichkeiten und literarische Figuren gelangen durch einen Zauber mit ins Geschehen und begleiten die Kinder zu diesen Ereignissen. Das kommt der magischen Phase dieser Altersgruppe entgegen. Um die Kinder dort abzuholen, wo sie heute sind, gibt es spielerische Elemente der Digital Humanities, und es gibt die Zeitlupenfunktion. Durch die gelegentliche Verlangsamung der Erzählung hat der kleine Leser die Zeit, sich in Gefühle und Gedanken der Protagonisten einzufühlen. Die Freundschaft mit starken Charakteren, die stärkt die Kinder. Es ist eine entschleunigte, mit Spannung, überraschenden Wendungen und spaßigen Einlagen versehene Zeitreise kreuz und quer durch mehrere Jahrhunderte. Durch das zentrale Muster der Freundschaft und die Reflexion der beobachteten Entscheidungen werden den Lesern Werte vermittelt. Zugleich erfahren sie, wie sich Kulturen und Lebensweisen änderten. Die zeitliche Entfernung wird mit einem ganz speziellen Gefühl gekoppelt, so dass sie mit den zeitreisenden Helden des Buches spüren, wie sich lange, sehr lange Zeit von vielleicht 800 Jahren und wie sich im Vergleich dazu eine "kurze" Zeit von 50 Jahren anfühlt. Das Wissen über die Ereignisse löffeln sie nebenbei. Und sie erwerben ein Netz von Grundwissen, Allgemeinwissen zur Geschichte, das ihnen helfen wird, später in der Schule zu lernende Ereignisse besser einzuordnen. Dass ein qualitätsvolles Kinderbuch mit ansprechenden Illustrationen versehen sein muss, versteht sich von selbst. Interessanterweise unterscheidet die Buchbranche nur "Bilderbuch" für 0-8jährige und "Kinderbuch" für 8-12jährige. Als ob es nichts dazwischen geben müsse! Zu dem Buch "Biografien berühmter Frauen für Kinder und Jugendliche" steht in einer Rezension: "Es liegt in der Natur der Sache, dass es für kleinere Kinder deutlich weniger Auswahl gibt, für die ganz Kleinen ist die Auswahl leider auf Prinzessinen und Heilige begrenzt. Die meiste Auswahl gibt es für die Altersgruppe ab 14." Auch die "Kurze Weltgeschichte für junge Leser" von 1935 (!) besteht aus einzelnen Streifzügen, aber nicht aus einer ineinanderverwobenen Geschichte. Es ist Zeit für ein neues Buch, das kleine Kinder an die Geschichte heranführt. Denn die neue Zeit der Digitalisierung bringt Kinder hervor, die ein anderes Buch neuerer Art brauchen. Oder sollte es sowas schon geben?!
Jedenfalls hat mein Projekt "Ein neues Kinderbuch zur Geschichte" bereits begonnen. Und es hat auch schon einen Namen. Seeing, what's next...

Freitag, 2. Juni 2017

Eine Zeitreise ins "richtig alte" Dresden


Wer in Dresden ist, will gern wissen, wie die Stadt vor dem Krieg aussah. Im Johanneum wird regelmäßig ein Film aus den 1930er Jahren gezeigt. Vielleicht will man aber auch wissen, wie die Stadt noch viel früher aussah? Das könnte man auch zeigen.


1811 zeichnete der Künstler Friedrich August Kannegießer 90 Ansichten der Dresdner Festungswerke. Dazu ging er einmal rings um die Stadt und hielt etwa alle 100 Meter die Festungsmauer aus immer neuen Perspektiven fest. 1890 sind diese Zeichnungen noch einmal als Lichtdrucke verlegt worden. Die Städtische Galerie hat eine kolorierte Bilderserie in ihrem Bestand. In den Antiquariaten gibt es nur noch sehr wenige Exemplare dieser Sammlungen, oft mit Mängeln. Leider haben die Schachteln bzw. die Bilder immer sehr gelitten, oder es fehlen die zwei Stadtpläne, auf denen mit Punkten die Standorte Kannegießers verzeichnet sind.
Nach langen Recherchen und Qualitätsvergleichen in Antiquariaten habe ich mich nun durchgerungen, mir ein Exemplar der Bilderserie zu kaufen.
Warum ist diese Bildquelle für Stadthistoriker so wertvoll? Vier Gründe will ich anführen.

Erstens: Es ist die unsichtbare Welt des richtig alten Dresdens und verweist auf ein spannendes Stück Stadtgeschichte.
Die Stadtbefestigung wurde wenige Jahre, nachdem Kannegießer sie gemalt hatte, planmäßig abgerissen. Eine "Demolitionskommission" mit den klügsten Köpfen entschied, wie die Stadt hinterher aussehen sollte. Auf Altstädter Seite ist lediglich die Brühlsche Terrasse als Rest der alten Stadtmauer noch stehen geblieben, auf Neustädter Seite kündet noch der Hügel am Japanischen Palais von einer früheren Bastion. Unterhalb der Brühlschen Terrasse kann man die Kasematten der Festung Dresden besuchen, die gerade zu einem großen Erlebnismuseum ausgebaut werden. Kaum noch sichtbar sind also die Spuren der riesigen Mauern, die einmal die Stadt schützten. Die Stadtbefestigung war ein gigantisches Bauwerk, das in mehreren Wellen entstand: die mittelalterlichen Palisadenbauten wurden in den Hussitenkriegen um eine Vormauer ergänzt. Herzog Georg veranlasste in der Reformationszeit eine planmäßige Stadtbefestigung, die in der nächsten Generation unter seinen Neffen  Moritz und August zu einer Festung mit Bastionen erweitert wurde. August der Starke benannte die Bastionen später nach Planeten um - symbolhaft im Sinne seiner absolutistischen Regentschaft mit dazugehöriger Hofkultur, die auch die Befestigung einbezog  - denkt man an den Zwingerbau, der auf dem Festungsareal entstand. Schon unter ihm gab es Pläne, die Festungen zu schleifen. Die Mauern hätten im Ernstfall längst nicht mehr der neuen Waffentechnik standgehalten und behinderten den Städtebau. Aber es sollte noch etwas dauern, bis im Zuge der Französischen und der Industriellen Revolution ein frischer Geist auch die alten Mauern davonblies. Für die gestiegene Bevölkerungszahl und die Verkehrsinfrastruktur waren die Mauern wie ein zu enges Korsett. In fast allen Großstädten legte man im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Wälle nieder. Die Trassen wurden oft zu Promenaden oder Hauptstraßen. Viele Maler hielten den Umbau der Städte fest, aber eine so detaillierte Rundum-Ansicht aus dieser Zeit dürfte nicht allzu häufig sein.
Zweitens: Auf den Bildern ist ein anderes Dresden zu sehen: so gut wie keine Frauenkirche, keine üblichen Verdächtigen, sondern ein Bild von der Hinterbühne der Stadt. Kannegießer hat auf den Bildern nämlich auch den Alltag festgehalten: Spaziergänger mit Hündchen, Wachen am Stadttor, Lastkähne auf der Elbe, Gefangene im Baugefangenenhof und wie sie die Kotkübel der Bastionen zur Leerung in die Kanäle tragen, Witwen, die Wäsche bleichen, spielende Kinder, Laternenanzünder, Fischer, die im Stadtgraben ihr Netz auswerfen, ein Pärchen, Gemüseverkäufer, zwei Frauen mit Laternen... Wie in einem Brennglas sieht man die Sozialgeschichte der Stadt.


Der Künstler hat die Morgen- und Abendstunden zum Malen genutzt, damit die Festungsmauern schöne lange Schatten warfen. Kannegießer war seines Zeichens Maler bei der Porzellanmanufaktur Meißen.

Drittens: Ein ganz persönlicher Reiz liegt im Detail eines verschwundenen Kunstwerks. Auf einer Ansicht ist ein an der Festungsmauer angebrachtes Relief mit einem sächsisch-dänischen Allianzwappen zu sehen , das es heute nicht mehr gibt. Es ist mir trotz intensiver Suche (Landesamt für Denkmalpflege, Lapidarium etc.) nicht gelungen, noch eine Spur zu diesem Wappen zu finden. Offenbar ist es im Zuge der Entfestigung einfach mit zerstört worden.


Viertens: Der größte Wert dieser Bilder besteht für mich aber darin, dass die Orte heute völlig anders aussehen. Die Mauern sind weg, fast alle Gebäude ebenso. Es ist wie ein Rätsel, sich die Orte auf dem Bild anzuschauen und dann zu vergegenwärtigen, wie die Stelle heute aussieht. Dort, wo der Laternenanzünder ein Pfeifchen schmauchte, steigt man heute am Postplatz, dem Straßenbahn-Verkehrsknotenpunkt, aus und geht über eine Ampel zu einem Bäcker. Dort, wo der Mann auf seinem Handkarren Säcke davonfährt, geht man heute ins Karstadt hinein. Der ehemalige Stadtgraben ist heute eine vierspurige Verkehrsader mit Straßenbahntrasse.

Aus dieser Quelle könnte man sehr viel machen, aber leider ist den Stadthistorikern das Potential dieser Bilderserie noch nicht ganz bewusst, obwohl die entsprechenden Institutionen diese Quelle alle kennen.  Einige Ideen hätte ich da schon...Eine virtuelle Reise ins "richtig alte" Dresden muss keine Fiktion bleiben!