Freitag, 23. Oktober 2020

In 20 Tagen zur Geografielehrerin (Teil 2)


Okay, mein Herz sagt Ja zu dem angebotenen Job. Also hole ich mir gleich 15 kg Bücher aus der Universitätsbibliothek. Über Geografiedidaktik, Lehrplaninhalte der 5. und 6. Klassen, Atlanten und die neueste Literatur zur Methodenvielfalt und zur digitalen Lehre. Da kommt einiges zusammen.

Mein Kompass zeigt ganz klar nach vorn, nach draußen, in die weite Welt. Von der Welt der Zeit in die Welt des Raumes. Mein Herz klopft bei der Herausforderung, die vor mir liegt. Es ist sehr viel Arbeit. Aber meine Entscheidung ist gefallen: besser, ich verdiene wenig als gar nichts. Besser, ich nutze mein Talent, anderen etwas beizubringen und sie mit meiner Begeisterung für Geschichte und diese wunderbare Erde anzustecken, als zu Hause mein Ding für mich zu machen. Besser ich lerne neue Leute im Kollegenkreis kennen, als ich versumpfe zu Hause. Besser ich lerne auch für mich was Neues als ich mach das, was ich schon immer gemacht hab. Und beim Durchlesen des Lehrplans finde ich ganz viele Themen, wo ich auch in Geografie ein bisschen Geschichte verstecken kann. Fächerübergreifender Unterricht. Und praxisnah ist das Ganze auch noch, weil ich viele Beispiele aus unserer Region einfließen lassen kann. Ich kann im zweiten Schuljahr vielleicht meine Planspiele ausprobieren, ich kann Exkursionen vorbereiten, ich kann mit den Kindern viele schöne Stunden erleben. 

Maritim, Navigation, Charts, Kompass

Ich werde Tage haben, wo der Zeitdruck mich fertig macht. Ich werde Tage haben, wo ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Ich werde Tage haben, wo mich die Schüler zur Weißglut treiben. Ich werde fluchen. Vielleicht werde ich Ausschreibungen sehen, auf die ich mich dann nicht bewerben kann. Was ich anfange, mache ich zu Ende. Ich werde aber auch oft glücklich sein. Ich werde jeden Tag das Ziel haben: Heute möchte ich, dass die Kinder einmal zum staunen bringen und einmal lachen sehen und ihnen eine neue Sache in den Kopf setzen. 

Zunächst einmal muss ich meinen Mann überzeugen. Im Freundes- und Verwandtenkreis höre ich nur Aufmunterung und dass sich alle sehr gut vorstellen können, wie gut ich das hinkriegen werde. Na, mal sehen... Dann kaufe ich für 50 Euro an Schreibmaterial alles ein, was man als Lehrerin so braucht und richte mir einen zugegebenermaßen sehr kleinen Arbeitsplatz in unserem Schlafzimmer ein. 

Aus der Verwandtschaft bekomme ich dankenswerterweise Schülermitschriften aus der 5. und 6. Klasse. So kann ich ein Gefühl dafür entwicklen, welches Niveau es sein soll, wieviel in eine Stunde passt und wie Klassenarbeiten aussehen und bewertet werden. Das hatte ich ja alles schon mal gewusst, damals, im Studium vor 25 Jahren. Es kommt mir vor wie gestern.

Inzwischen habe ich eine Excel-Liste begonnen, wo ich den Zeitaufwand für alles notiere. Das wird bestimmt später mal interessant!

In 20 Tagen zur Geografielehrerin (Teil 1)

Dieses Jahr war eine besonders, auch für mich. Bis Ende Januar lief mein letztes Projekt, und seitdem überarbeite ich meine Qualifikationsschrift für den Druck und schaue nach einer neuen Stelle. Bis Januar hätte ich noch ALG I, aber dann...? Was macht man als habilitierte Historikerin für Landesgeschichte, die seit 15 Jahren von einem Projekt zum nächsten gekommen ist und mit Familie nur bedingt flexibel? Eigentlich will ich doch nur mein Herzensprojekt machen - eine Doppelbiografie über die Minister Augusts des Starken, Flemming und Wackerbarth. Alte Bücher lesen, im Archiv sitzen, jeden Tag den Berg der 10.000 Briefe abtragen ... das wäre schön!

Buch, Lesen, Alt, Literatur, Seiten, Bücher

Aber dafür müsste ich einen DFG-Antrag schreiben, der viel, viel Mühe kostet und zu 75% abgelehnt wird. Meine Kontaktversuche zu den einschlägigen Institutionen in Dresden erbrachten bis jetzt auch nur Schulterzucken: "Ein sehr wichtiges Thema, aber eine Stelle? Nö."

Da hilft nur umschauen. Die Ausschreibungen sind allesamt dürftig. Eigentlich bin ich auf der Suche nache einer Koordinatorenstelle oder Teilprojektleitung im Gehaltsbereich TV-L 14. Gefunden habe ich: eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Dippoldiswalde - für TV-L 8. Vom Arbeitsumfang her ist das auf jeden Falle eine 13, also bewerbe ich mich nicht. Verlockend ist auch eine Stelle in Dessau, wo mehrere Museen zusammengeführt werden. Vollzeit, Befristung, Umzug...mit Kindern in der gegenwärtigen Lage nicht die erste Wahl. Und überall suchen sie die eierlegende Wollmilchsau.

File:Wollmilchsau.png

Des Weiteren finde ich einen interessanten Job als Assistenz der Geschäftsführung in der freien Wirtschaft in der holzverarbeitenden Industrie, die sich über Quereinsteiger freuen. Allerdings ist das Unternehmen mitten in der Pampa, jeden Tag 30min Autobahnfahrt, und dann wäre das der Abbruch meiner wissenschaftlichen Karriere. Also etwas näher dranbleiben möchte ich schon. Also überlege ich diesmal ernsthaft, meinen Zweitabschluss des Ersten Staatsexamens zu nutzen und schau nach, ob Lehrer gebraucht werden. Und werde fündig: zwei Schulen in Dresden suchen Geschichtslehrer. Gleich mache ich zwei Bewerbungen fertig.

Die eine Schule schickt nach wenigen Tagen die Absage, die andere Schule lädt mich nach sechs Tagen zum Vorstellungsgespräch ein. Ausgeschrieben ist eine halbe Stelle als Lehrkraft für Geschichte und Geografie am Gymnasium.

Als ich ankomme, heißt es, ich müsste 8 Stunden Geografie und 3 Stunden Geschichte geben, überwiegend für Schüler der Oberschule. Die Stelle ist auf zwei Schuljahre befristet. Das Gehalt orientiert sich an den Quereinsteigern im Lehrdienst und sieht ca. 1.500 brutto vor. Ich werde kurz durch die Schule geführt und fühle mich wohl bei dem Gedanken. Hier könnte ich was Sinnvolles tun, hätte eine sichere Perspektive und könnte meinen Horizont erweitern. Ob ich das wirklich wagen soll? Von der renommierten Fachhistorikerin zur Geografielehrerin? Erstmal drüber schlafen.



Mittwoch, 13. November 2019

Der Kinderroman zum Thema Zeitreisen ist fertig!

Unter dem Titel "Die Abenteuer mit dem Mantel der Geschichte" habe am 4. August 2019 mein Kinderroman in der ersten 15-Stück-Auflage unter die Familie gebracht. 245 Seiten voller Zeitreiseabenteuer. Es geht z.B. um Dürers Hase, August den Starken, die Geburt von Tom Sawyer und die Entdeckung des Great Barrier Reefs und zwei Jungs mit einem unstillbaren Abenteuerhunger..... also eigentlich ist es Landesgeschichte verwoben mit Weltgeschichte.

Klappentext: "Es gibt ihn tatsächlich, den Mantel der Geschichte. Er ist zwar etwas versteckt und es fehlt ein Knopf, aber die zwei Brüder Christoph und David restaurieren ihn. Von ihrem Großvater erfahren sie von dem Familiengeheimnis des Mantels und seinen Fähigkeiten. Sie freunden sich mit Kairos, dem jüngsten Sohn des Zeus an, der als griechischer Gott für den günstigen Moment zuständig ist. Durch ihn erfahren die Brüder von der Zauberkraft der vier Mantelknöpfe und können viele abenteuerliche Zeitreisen erleben. In detektivischer Archivarbeit finden sie heraus, wie der Mantel der Geschichte entstand und reisen an den Geburtsort des Mantels, Dresden zur Zeit Augusts des Starken. Gemeinsam - und manchmal auch mit ihren zum Leben erwachten Spielfiguren - besuchen die Brüder berühmte Künstler, Schriftsteller und Entdecker und geraten nicht nur bei den Mongolen und beim Bau der Berliner Mauer 1961 in tüchtige Schwierigkeiten." 
 
 
Zuerst habe ich das Buch meinem neunjährigen Sohn vorgelesen. Er war mit Begeisterung dabei und fand das Buch sehr spannend. Ebenso habe ich viele positive Rückmeldungen aus der Familie bekommen. Alle Kinder und Jugendliche haben die Hauptfiguren und Kairos als coolen Kumpel sofort ins Herz geschlossen. Und ich habe vor, das Manuskript an einen Kinderbuchverlag zu senden, wenn ich denn mal Zeit habe.

Und wer das Buch jetzt schon zum Vorzugspreis von 15 EUR kaufen möchte, schickt mir einfach eine Mail (asrous@gmail.com), bekommt die Bankdaten und hat es bald danach im Briefkasten!

Freitag, 11. Januar 2019

FAQ zum Thema Zeitreiseromane für Kinder

Zeitreisen will jeder können. Geht nicht, sagt Einstein. Geht doch, sagt die Phantasie.
Und genau das macht den Reiz aus. Man könnte Fehler ausradieren, historische Ereignisse aus der Nähe betrachten, berühmte Persönlichkeiten und andere Kulturen kennenlernen usw.

Wieviele Zeitreisefilme und -bücher gibt es für Kinder?

Es gibt zahlreiche Filme zu dem Thema, und sie alle aufzuzählen, würde zu weit führen. Die Drehbuchschreiber lieben das Thema, weil es ankommt. Es ist die Mischung aus Science-Fiction und der Faszination, das Unmögliche zu können. Auch Zeitschleifen als Sonderform sind überaus spannend.Zeitreisen kommen in vielen Filmgenres vor - Science-Fiction, Romanzen, Komödien, Thriller, Mystery usw. Wohl jeder hat schon einen Zeitreisefilm gesehen.
Kinderfilme mit Zeitreisen gibt's fast gar nicht. Von 1955 ist "Reise in die Urzeit", 2016 kam "Dr. Proktors Zeitbadewanne". Dann gibt es noch die Weihnachtsserie "Jesus und Josephine" mit dem Nachklapp "Oskar und Josefine"

 




In der Literatur ist das Thema Zeitreisen nicht erst seit Wells Buch "Die Zeitmaschine" von 1895oder Mark Twain's "Ein Yankee am Hofe des König Artus" von 1921 besetzt. Schon 1733 setzte sich ein Engländer mit Gedanken zum 20. Jahrhundert auseinander, Samuel Madden.
Es gibt soviel Zeitreiseliteratur, dass sogar Wissenschaftler sich des Genres annahmen.
Auch die Kinder- und Jugendliteratur hat Zeitreisen für sich entdeckt.
Es gibt sehr erfolgreiche Reihen wie "Das magische Baumhaus" mit über 53 Titeln oder "Die Zeitdetektive" mit 39 Bänden [Stand: Januar 2017] oder "Artemis Fowl" mit acht Bänden sowie kleine Reihen mit drei Bänden wie "Holyhill" oder "Zeitenzauber", um nur einige zu nennen. Nicht zu vergessen die zahlreichen Veröffentlichungen, die ohne Fortsetzung funktionieren.
Bei einer kurzen Analyse der Veröffentlichungen auf dem Kinderbuchmarkt können einige interessante Beobachtungen gemacht werden:
1. Die Bücher sind fast immer für Teenager oder für Kinder ab 10 Jahren.
2. Es gibt Orte und Zeiten, die häufiger auftauchen (z.B. Italien um 1500, England um 1900).
3. Meistens gibt es pro Buch ein Zeitreiseziel.
4. Der Kulturschock ist Basis des Humors.
5. Der Kampf gegen das Böse ist mindestens unterschwellig immer präsent.
6. Meistens verwickeln sich die Protagonisten in Zeitparadoxe. Es wird etwas verändert usw.
7. Die "Mechanik", mit der man in die Zeit versetzt wird, ist sehr unterschiedlich,sehr magisch.
8. Teamwork hilft immer, also: Freundschaft und Liebe kommen nicht zu kurz.


Warum gibt es keine Zeitreiseliteratur für Jüngere?
Auch Kinder unter zehn Jahren haben bereits ein Zeitgefühl entwickelt. Ein Zeitbewusstsein hingegen, das geschichtliche Vorgänge richtig einordnet, ist mehr. Bei Grundschulkindern wird es gerade ausgebildet. Wie eine Studie von 1999/2000 zeigt, haben auch schon Sechsjährige Interesse an vergangenen Epochen, "eine „Art urwüchsiges Interesse an Geschichte, das sich auf Andersartiges, Rätselhaftes und Abenteuerliches richtet“ (Sauer 2003, S. 28). Die Studie hält fest:
Schon SchulanfängerInnen verfügen über einen ersten Fundus an schemenhaften Kenntnissen und Vorstellungen über einzelne Epochen und Themen der Geschichte.

Das wird auch daran ersichtlich, dass ihnen zeitliche Begrenzungen und die Generationenfolge Urgroßeltern --> Großeltern --> Eltern --> ich --> meine Kinder  bekannt ist.

Warum werden nicht auch andere Zeitreiseziele gewählt?
Vor- und Grundschüler haben andere Präferenzen. Dazu ein Zitat aus der Studie:
Ein besonderer Reiz geht für die Sechs- und Siebenjährigen von dem sehr Entfernten und Abenteuerlichen aus. Als besonders beliebt erweisen sich bei mehr als der Hälfte aller ErstklässlerInnen Inhalte der Prähistorie, also der Zeit zwischen 600.000 v. Chr. und dem ca. 260 n. Chr. beginnenden Frühmittelalter sowie die Zeitspanne vor der Hominisation.

Man kann Kinder auch für andere Zeiten begeistern, wenn es nur um Ferne und Abenteuer und Emotionen geht. Und wenn ein Bezug zum eigenen Leben vorhanden ist. Und viele wunderschöne Illustrationen. So lässt sich für nahezu jede Epoche eine Szene aus der Geschichte finden, die kindgerecht wäre. Mit Jahreszahlen braucht man ihnen freilich nicht zu kommen.

Warum wird dann im Sachunterricht keine Geschichte unterrichtet?
Dennoch gibt es bislang so gut wie keinen historisch orientierten Sachunterricht. Es wäre, so die zitierte Studie, sehr wünschenswert, wenn das Geschichtslernen im Sachunterricht von Beginn an ein regelmäßig wiederkehrender Bestandteil wäre.

Solange die Bildungspolitik sich dem Votum der Erziehungswissenschaftler aber widersetzt und (je nach Bundesland) das Gemisch "Heimat-Welt-Geschichte" oder "Begegnung mit Raum und Zeit" anbietet, kann die Kinderliteratur diese Lücke schließen.

Fazit: Es fehlt ein Zeitreisebuch für Vorschul- und Grundschulkinder. Ich arbeite gerade daran.

Wie kann ein Zeitreisebuch für kleinere Leser funktionieren?
Zurück zu den oben genannten Aspekten.
1. Es ist für 5-10jährige geschrieben.
2. Es sind nicht nur alltagsweltliche, sondern auch räumliche Gegenwartsbezüge vorhanden, denn die Geschichte spielt in einer realen Stadt (Dresden), aber auch in vielen anderen historischen Orten.
3. Es wird herrliche Abenteuer geben, denn es gibt mehrere Zeitreisen in einem Buch.
4.  Den Humor steuern die Hauptfiguren selbst bei: zwei Brüder.
5. Das Böse gibt es hier nicht. Nur echte historische Gegebenheiten, mit Gütesiegel der Historikerin.
6. Besser ist es, man verändert die Vergangenheit nicht, sondern beobachtet sie nur. Das wird gewährleistet.
7. Gereist wird durch einen geheimnisvollen... Das soll jetzt noch nicht verraten werden.
8. Natürlich brauchen die Protagonisten auch ein soziales Umfeld. Aber das ist nur indirekt in die Zeitreise involviert, denn das Familiengeheimnis müssen die Brüder hüten.

Der Zeitreiseroman für Kinder braucht noch ein bisschen Zeit. Für sachdienliche Hinweise bin ich sehr dankbar.


Mittwoch, 14. Juni 2017

Erlebnisse im Archiv

Man kann einem Anderen schwerlich die Faszination eines Archivs nahebringen, wenn er nicht selbst dort gewesen ist, die alten Originale berührt und den Atem der Geschichte gespürt hat.
Die seltsame Atmosphäre zwischen den Akten und ihren Lesern einzufangen, ist Arlette Farge in ihrem kleinen Büchlein "Der Geschmack des Archivs" wunderbar gelungen. Obwohl es nur einen Teil der Wahrnehmungen einfängt. 


Stets sieht man morgens die gleichen, stillen Gesichter. Den Militärhistoriker mit Geheimratsecken, die Doktorandin mit ihrem frischen Schritt auf immer den gleichen Platz, das ältere Paar im Bemühen, gemeinsam leise flüsternd etwas über die Familiengeschichte zu entziffern, der Neuling, der kaum zu atmen wagt und sich vorsichtig mit einer (!) Akte in die letzte Reihe setzt. Man könnte die Reihe fortsetzen.
Es sind teilweise Spitzweg-Figuren, die einem im Archiv begegnen - mich nicht ausgenommen.
Man gewöhnt sich an, denselben Spind zu wählen, den optimalen Platz zu suchen und zu behaupten. Für mich war das immer nah am Lesesaal-Computer, damit ich mal fix was in der Datenbank recherchieren konnte, möglichst mit Platz nach allen Seiten und wenig Ablenkung - bloß keinen Fensterplatz, denn die Verführung, nach draußen zu schauen ist gar zu groß. Ganz zu schweigen von der blendenden Einstrahlung.
Im alten Lesesaal gab es zur "Unterhaltung" von Zeit zu Zeit Geräusche, wenn die hundert Jahre alte Heizung anging und vor sich hin klopfte. Warm wurde einem dennoch nie so richtig. Von Zeit zu Zeit hört man einen schniefen. Im Archiv ist es oft kühl, und stundenlanges Stillsitzen befördert den "Archivschnupfen". Der ist keine Einbildung. Ich war jetzt länger nicht dort, und seit meinem letzten Besuch habe ich ihn verloren.
Überhaupt - der alte Lesesaal! Schon der Eingangsbereich des Archivs war eine Schau. Granitstufen in einer Halle, orangefarbene Metallspinde an der Seite. Nur die Eingeweihten wussten, dass es in der Nähe des Lesesaals noch die alten Holzschränke gab, die natürlich ungleich mehr Aura hatten. Sie waren bei der "Vorzimmerdame", die eine Art Concierge-Dienst verrichtete. Um sie herum vielleicht zehn, und auf der Galerie über ihrem Kopf nochmal soviele Schränke, erreichbar über eine Holzstiege. Die waren immer als erstes belegt. Sogar ältere Herrschaften nahmen die Stufen in Kauf, um an so einen begehrten, historischen Schrank zu kommen. Somit konnte man wählen zwischen einem kleinen Metallschlüssel mit Plastiknummer oder einem schweren Schlüssel mit Holzkugel. Gewissermaßen Schränke zweiter und erster Klasse.
Dann am Empfang links der Eintritt in den Lesesaal. Eine hohe schmale Tür mit geschwungener Klinke, die tief hinunterzudrücken war. Erstaunlich leicht ging die Tür auf, und, war man durch, merkte man, wie schwer es war, sie geräuschlos zu schließen. Im Lesesaal hundert Jahre altes Holzmobilar. Große Eichentische in fünf Reihen mit Platz für 30 Leute. Leichte Holzlehnstühle mit Polsterung. Tische, die was zu erzählen hatten mit ihren Schrammen und tiefen Rillen. Für jeden Arbeitsplatz eine grüne Schreibtischunterlage aus Karton. Was mag nur all für Papier auf diesen Tischen gelegen haben! Wieviele karierte Sakkoärmel mit Ellenbogenschonern mögen auf diesen Tischen gelegen haben.... Man musste unter den Tisch kriechen, wenn man zur Steckdose wollte. Aber das war erst gegen Ende nötig, denn zuvor war das Abschreiben der Akten Usus, und man hörte statt des Klack-klack-klack der Tastatur ein vielfaches Rutschen von Bleistiften (!) - Geräusche wie in einer Klassenarbeit. Als die Laptops Einzug ins Archiv hielten, kam das einer Revolution gleich. Morgens hörte man mindestens einmal die Startmelodie eines Computer, spätnachmittags ebenso oft die Melodie, mit der die Laptops schlafen gingen. Dazwischen nur: klack-klack-klack. Schweres Atmen älterer Herrschaften. Hin und wieder ein Durchatmen oder Räuspern. Oder ein halbfreudiges "aha!", das dem Papier sagen sollte: "Jetzt hab ich dich!" Manchmal Selbstgespräche. Sehr viel gaben die Leser nicht von sich preis. Da war das Mobilar schon gesprächiger. Eine gelegentlich knarrende Wendeltreppe zu den Nachschlagewerken in der Galerie. Stühle, die vorwurfsvoll auf dem Linoleumboden gräßliche Geräusche machten, wenn man es sich bequem zu machen versuchte. Ein krachendes Geräusch, wenn jemand die immer klemmenden Stecker aus der Steckdose zerrte. Die Aufsicht saß an den zwei Enden des Raumes auf erhöhten Podestarbeitsplätzen. Grün/goldene, rundliche Tischlampen mit kleinen hängenden Stricken zum Anschalten. Sie gaben eine, ich will mal sagen: sparsame Beleuchtung. Doppelfenster mit dem dichten Blätterdach der kleingestutzten Bäume davor. Sie rauschten, wenn die Fenster im Sommer offen standen.
Dazu hörte man die Eingangstür zigmal am Tag schwer ins Schloss fallen. Unwillkürlich die Frage: Was wollen die bloß immer, die dauernd rein und raus gehen? Klar - alte Leute müssen mal. Immer öfter. Zwischen Metallspinden und Empfangsdame der Flur mit den Toiletten war ihr Ziel. Die Toilette mit dem Sprung in der Fliese am Waschbecken und dem kleinen Fensterchen...Im Flur gab es auch eine Sitznische mit dunkelhölzerner Eckbank. Wie oft habe ich dort in der Ecke, meine Schnitten kauend, zur Mittagspause ein Dossier der ZEIT gelesen! Und wie hab ich mich geärgert, wenn der Platz schon vergeben war. Dann hieß es: rausgehen, denn einen Pausenraum gab es nicht. Stattdessen aß ich mein Brot ein paar Minuten entfernt, auf einer Bank beim Bogenschützen mit Blick auf die Elbe. Auch nicht der schlechteste Platz. Dann wieder zurück ins Archiv. Das rechte Fenster offen - die rechte Aufsicht macht auch gerade Pause. Oder das linke Fenster offen - die linke Aufsicht hat Pause. Hinsetzen, weitermachen, nur unterbrochen vom Lauschen auf Gespräche, denn das leise Sprechen der Aufsicht konnte man nicht ausblenden, wenn neue Leser das Prozedere erklärt bekamen. Und vom Nachbarraum hörte man das Hin- und Herspulen der Rollfilme. Die Arbeit an den Lesegeräten ist ungesund, weil man entweder einen steifen Hals bekommt oder einem schwindlig wird (oder beides). Zugleich dauerte die Lektüre ungleich länger, weil auf den Filmen stets mehr war, als man eigentlich brauchte. Kaum war das umständliche Einfummeln des Filmstreifens geschafft, begann bei den ersten Bildern stets dasselbe: Man schaute hin, obwohl auf der Schachtel unmißverständlich stand, dass der gewünschte Abschnitt erst gegen Ende des Films zu erwarten war. Eigentlich könnte man gleich weit vorspulen. Aber der Lärm des Spulens ist ja so laut! Und es ist eine Verführung, zu sehen, was außer der eigentlich bestellten Akte  noch so auf dem Film ist. Wer könnte da widerstehen, wenn man die Akte mit der anderen Strichnummer doch schon mal vor sich hat! Ein Blick kann ja nicht schaden, worum es darin geht... "Ach, das ist ja interessant..." Eine halbe Stunde später stellt man fest, dass man gar nicht das liest, was man eigentlich sollte. Und der Blick auf die Uhr sagt einem, dass man das angestrebte Ziel heute wohl nicht mehr schaffen kann.

Im neuen Lesesaal ist es grau/weiß. Zwei Steckdosen in jedem Tisch leicht erreichbar. Moderne, kantige  Metalllampen, die ein sehr gutes Lesen ermöglichen. Saubere, aalglatte Tischoberflächen. Glastüren, die mit einem lauten Klacken von selbst aufspringen. Die Aufsicht, die in das hohe, lichte Foyer hinter einen Tresen verbannt wurde. Bahnhofsatmosphäre. Aber immerhin ein heller Raum, wo das Personal nun in normaler Gesprächslautstärke die Leser beraten kann und sowohl die Leser im Lesesaal als auch die Leser im Filmlesesaal im Blick haben, die jetzt ihren Krach in einem eigenen Raum austoben dürfen.
Nur eines ist gleich geblieben: die charmante Art der Aufsicht, fünf Minuten vor Schließung mit einem Glöckchen die Leser an das Ende des Arbeitstages zu erinnern. Und wie dann alle emsig ihre Siebensachen zusammenpacken. Bloß nicht zu langsam sein, damit man nicht anstehen muß. Aber man muss es wahrscheinlich trotzdem. "Das hier noch liegen lassen. Das andere brauch' ich nicht mehr." So  oder so ähnlich geht es. Damals wie heute. Dann verschwinden die stillen, grauen Gestalten hinaus ins Licht, ins Leben. Zu den angeschlossenen Fahrrädern, den Autos in der Nebenstraße der "Archivstraße".


Und zusammen mit dieser Atmosphäre verknüpft sind die Gefühle bei echten Entdeckungen. "Yes!", denkt man. Oder das Gefühl der Enttäuschung, wenn statt einer dicken, fetten Akte, nur ein paar Blättchen in einem Umschlag liegen. Als wäre Weihnachten ausgefallen. Oder das Gefühl, wenn man stutzig wird. Wenn man den Brief nochmal von vorn beginnen muss: "Irgendwo hier muss doch stehen, worauf der sich bezieht...?" Oder das Gefühl, das man spürt, wenn man Originale berühmter Leute in der Hand hält. Ehrfurcht: Das ist eine Urkunde von Barbarossa. Das ein Brief von Luther. Das eine Unterschrift von Bach. Unvergessen, wie ich die Handschrift von August dem Starken nur verstehen konnte, wenn ich sie mir leise selbst vorlas, denn er war Legastheniker und schrieb dermaßen sächsisch, und noch dazu sehr unleserlich, dass man eher von einer Lautschrift als von einer Handschrift sprechen kann. Und der innere Jubel, als ich seine Geheimschrift entschlüsselte. Aber das ist eine andere Geschichte.
So ist das Archivleben - zumindest habe ich es so erlebt. Ich liebe es, seit 2002.

Biographieforschung in Zeiten der Digitalisierung

Für Biographien zu recherchieren, ist kein leichtes Unterfangen. Zahllose Anlaufpunkte gilt es zu berücksichtigen. Heutzutage ist vieles schneller zu finden als früher, aber es besteht weiterhin noch Verbesserungsbedarf.
Die Recherche zu Mitgliedern der Sächsischen Akademie der Wissenschaften wird mich beruflich in den nächsten Jahren stark beschäftigen. Viele Namen aus der Wissenschaftsgeschichte sind mir geläufig. Es gibt Größen wie Heisenberg oder Planck, aber auch viele wenig bekannte, verdiente Wissenschaftler. Zu allen gibt es verstreute Quellen, die die SAW in einem virtuellen Archiv zusammenführen wird.
Begonnen habe ich mit dem Chemiker Peter Debye. Schon am Anfang zeigt sich, dass die Archive vieler Institutionen weder über Onlinefindbuch noch über Online-Suchfunktion verfügen. Glücklicherweise gibt es inzwischen aber das Biographie-Portal, den Verbundkatalog Kalliope sowie die Deutsche Digitale Bibliothek. Hier sind zahlreiche Quellen bereits verortet. Aus Übersee konnten manche Quellen ergänzt werden. Mit wenigen Klicks findet man bei der American Academy of Art and Sciences ein Dankschreiben Debyes für die Aufnahme in die Academy von 1927 - inklusive JPG. Soweit sind die deutschen virtuellen Archive noch nicht überall. Von den rechtlichen Hürden in der Kooperation und Online-Veröffentlichung ganz zu schweigen.
Leider sind auch die Normdaten der GND und die Geodaten noch nicht flächendeckend eingesetzt worden, um Personen und Orte zweifelsfrei zu identifizieren. Die internationale Vernetzung der Forschungsprojekte ist keine kleine Herausforderung.

Dienstag, 6. Juni 2017

Aus der Werkstatt: Ein Kinderbuch (Zeitreisebuch) zum Vorlesen

Christian Leberecht Vogel von Vogelstein: Die Kinder des Künstlers, 1793

Was fehlt, ist eine kindgerechte, in eine circa 100 Seiten lange, spannende Erzählung gepackte Heranführung an verschiedene Persönlichkeiten, gewissermaßen ein "Best of" in einem Vorlesebuch für 5-8jährige Kinder. Ein solches Buch, wie es mir vorschwebt und wie ich es bereits begonnen habe, entführt die Kinder in einer Rahmenhandlung zu Schauplätzen der Geschichte. Schauplätze allerdings, die nicht immer die bekanntesten sind. Und diese Geschichten werden aus mehr als einem Blickwinkel präsentiert. Es sind keine Schlachten, denn die Politikgeschichte soll hier etwas zurückstehen. Vielmehr sind es oft die kleinen Momente, die hinter den großen Ereignissen der Menschheitsgeschichte stehen. Welche genau thematisiert werden, soll hier (noch) nicht verraten werden. Es sollen jedenfalls nicht die schon weithin bekannten Anekdoten widergekäut werden, die scheinbar als einzige bisher für kindertauglich befunden wurden.
Der Clou: verschiedene Persönlichkeiten und literarische Figuren gelangen durch einen Zauber mit ins Geschehen und begleiten die Kinder zu diesen Ereignissen. Das kommt der magischen Phase dieser Altersgruppe entgegen. Um die Kinder dort abzuholen, wo sie heute sind, gibt es spielerische Elemente der Digital Humanities, und es gibt die Zeitlupenfunktion. Durch die gelegentliche Verlangsamung der Erzählung hat der kleine Leser die Zeit, sich in Gefühle und Gedanken der Protagonisten einzufühlen. Die Freundschaft mit starken Charakteren, die stärkt die Kinder. Es ist eine entschleunigte, mit Spannung, überraschenden Wendungen und spaßigen Einlagen versehene Zeitreise kreuz und quer durch mehrere Jahrhunderte. Durch das zentrale Muster der Freundschaft und die Reflexion der beobachteten Entscheidungen werden den Lesern Werte vermittelt. Zugleich erfahren sie, wie sich Kulturen und Lebensweisen änderten. Die zeitliche Entfernung wird mit einem ganz speziellen Gefühl gekoppelt, so dass sie mit den zeitreisenden Helden des Buches spüren, wie sich lange, sehr lange Zeit von vielleicht 800 Jahren und wie sich im Vergleich dazu eine "kurze" Zeit von 50 Jahren anfühlt. Das Wissen über die Ereignisse löffeln sie nebenbei. Und sie erwerben ein Netz von Grundwissen, Allgemeinwissen zur Geschichte, das ihnen helfen wird, später in der Schule zu lernende Ereignisse besser einzuordnen. Dass ein qualitätsvolles Kinderbuch mit ansprechenden Illustrationen versehen sein muss, versteht sich von selbst. Interessanterweise unterscheidet die Buchbranche nur "Bilderbuch" für 0-8jährige und "Kinderbuch" für 8-12jährige. Als ob es nichts dazwischen geben müsse! Zu dem Buch "Biografien berühmter Frauen für Kinder und Jugendliche" steht in einer Rezension: "Es liegt in der Natur der Sache, dass es für kleinere Kinder deutlich weniger Auswahl gibt, für die ganz Kleinen ist die Auswahl leider auf Prinzessinen und Heilige begrenzt. Die meiste Auswahl gibt es für die Altersgruppe ab 14." Auch die "Kurze Weltgeschichte für junge Leser" von 1935 (!) besteht aus einzelnen Streifzügen, aber nicht aus einer ineinanderverwobenen Geschichte. Es ist Zeit für ein neues Buch, das kleine Kinder an die Geschichte heranführt. Denn die neue Zeit der Digitalisierung bringt Kinder hervor, die ein anderes Buch neuerer Art brauchen. Oder sollte es sowas schon geben?!
Jedenfalls hat mein Projekt "Ein neues Kinderbuch zur Geschichte" bereits begonnen. Und es hat auch schon einen Namen. Seeing, what's next...