Freitag, 21. April 2023

Brief von Wackerbarth an Flemming, 19. Januar 1704

Über das Verhältnis der beiden berichtet schon der erste Brief meiner "Probebohrung". Ich habe ihn transkribiert und aus dem Französischen übersetzt.

Wackerbarth schrieb als Gesandter aus Wien, wo er seit 1698  - mit Unterbrechungen - war. Er macht die Belastungen, denen er ausgesetzt war, deutlich und wendet sich vertrauensvoll an seinen "Bruder". 



Brief von Wackerbarth aus Wien an Flemming, 19. Januar 1704

Sehr verehrter Herr Bruder,
Niemand freut sich mehr als ich, Eurer Exzellenz in Bezug auf die Collatio [den Vergleich] hier ​​zufrieden stellen zu können. Der Überbringer wird die Ausführung ganz in Ihre Hände legen; ich halte all mein Verlangen zurück und habe die Hoffnung, dass Sie mir  einen zusätzlichen Kontrakt geben werden, und nun folgt, was ich wünsche.
Machen  [Erhöhen] Sie es [das Geld] bis zu 500 fl., weil Sie es aus der beigefügten Quittung des Absenders ersehen, außerdem habe ich noch 30. fl. als Gratial [Dankbarkeitsgeste] in der Kanzlei bezahlt, da es dort üblich ist, bei einer solchen Zusammenkunft ein kleines Präsent zu überreichen. Ich musste dieses Geld leihen, da es 100 und mehr oder weniger Gulden sein werden, weil sich hier jeder präsentiert und die Knappheit so groß ist, dass die gleichen Bankiers, die  sonst 1000. und mehr Gulden vorschießen, mir vorerst keine 10. für das Geschenk geben können. Selbst wenn ich überhaupt noch Kredit hätte, wäre sozusagen kein Geld da. Mein Silberbesteck habe ich schon eingeschmolzen, um meine Gläubiger zu bezahlen, und meinen Sekretär habe ich nach Sachsen geschickt, um meine Vorschüsse und mein Gehalt zu erbitten, da seit einiger Zeit von Mal zu Mal niemand mehr daran denkt, mich hier zu bezahlen. Er hat Auftrag [mich] bei Ihnen zu vertreten und Ihnen diesen Stand in meinen Angelegenheiten mitzuteilen und um Ihre Unterstützung zu bitten, um die ich Sie sehr demütig bitte.
Der König hebt mich heraus, wenn ich ihn um die Gnade bitte, es zu wagen, an den Hof zu kommen, und will, dass ich hier sterbe, zur gleichen Zeit wird mir gesagt, dass ich dort leben muss, aber ich werde nichts sagen, wenn ich stoisch dem Staat und Maitre auf eigene Kosten zu dienen habe. Aber sind es nicht die Umstände ihm zu sagen, dass ich ihm hier notwendig bin. Da ist es nur richtig, dass man mich auch unterhält. Ich wünschte, dass Sie eine halbe Stunde mit mir sprechen könnten, damit ich meine Seele erleichern und unter uns meine Sorgen anvertrauen könnte.
Kürzlich hatte ich einen Zeitungsbericht, der mir ins Herz drang. Man wirft mir Unachtsamkeit vor hinsichtlich eines Vertrages, von dem man mir versichert hat, ob er abgeschlossen ist oder nicht, zwischen dem Kaiser und dem König von Preussen bezüglich Glogau und  Sagan und nicht von... [?], dass es ein realitätsferner Vertrag ist, woran noch nie gedacht wurde. Sie reden in einer Weise über mich, als hätte ich die Interessen des Maistre vernachlässigt; Hier kommt noch das Angenehme an der Funktion des Gesandten dazu, dass man ihm seine Außlößung [sic!] nicht mehr zahlt, und dieser Freund mir auf Befehl, wenn er nicht davon absteht, mir nicht die Hälfte von dem gibt, was wir gewohnt sind an andere zu geben, // die nicht verpflichtet sind, mehr zu tun// oder ihrerseits nicht verpflichtet sind, mehr Aufwand und mehr Aufwand zu leisten als ich.
All dies, mein lieber Bruder, um freiheraus mit Ihnen zu sprechen, sollte mir sagen, dass ich nicht denselben Anteil am Wohlwollen Seiner Majestät haben soll. Ich weiß nicht einmal, ob ich mir dieses Vorgehen  einbilde. Es handelt sich um einen Fall von mir und meinem Dienst, bei dem ich lieber ein Almosen nehme, als einem Fürsten zur Last zu fallen, der mich nicht mehr liebt. Ich kann mich nicht erinnern, irgendjemandem an unseren Höfen das Geringste getan zu haben, also weiß ich nicht, ob ich Feinde habe, die mir diesen guten Dienst erweisen, oder was ich zumindest geschrieben habe. Der Großmarschall, der nur ein halber Freund ist //Freunde hatten mich gewarnt// hat mir mitgeteilt, dass er sich auf meine Seite gestellt hat, damit ich ihm dankbar wäre. Aber ich habe ihm nicht gesagt, dass Sie es waren, von dem ich diesen Hinweis habe. Ich bitte Sie, mit ihm vereinbaren, dass die Anordnungen zur Zahlung meines Gehalts sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zukunft erteilt werden oder dass Sie mir zumindest sagen, woran ich bin. Ich schrieb auch an Herrn von Bose, um ihn zu bitten, mir mein Gehalt aus der Kriegskasse zu geben, zusätzlich zum Gehalt von Generalmajor.
Ich habe noch Anspruch auf acht Monate Gehalt als Lagergeneral, für welche Zeit ich glaube, der einzige im Dienst des Königs zu sein, dem nicht zugestimmt wurde, da man ihm alles nehmen kann. Er versicherte mir, immer einer meiner Freunde zu sein, ich zweifle nicht daran, dass er nach Ihrer Fürsprache alle gewünschten Überlegungen anstellen wird. Verzeihen Sie mir, mein lieber Bruder, wenn ich Sie so mit meinen eigenen notwendigen Interessen belaste. Ihre Sanftheit und gutes Herz verpflichten mich dazu.
Zu dem, was ich Ihnen gerade offen gesagt habe, beschwöre ich Sie, damit ich weiß, woran ich bin, sagen Sie mir, wenn Sie in meiner Sache zut Seiner Majestät gehen, wie ich es mir vorstelle. Falls das nicht möglich ist, werde ich Ihnen etwas unter vier Augen hinzufügen, was los ist.
Ich bin völlig Eurer Exzellenz ganz bescheidener und freundlicher AC von Wackerbarth



Donnerstag, 20. April 2023

Neues Projekt "Wackerbarth und Flemming" - Der erste Monat

Am 24. März startete ich ein neues Projekt unter dem Arbeitstitel "Wackerbarth und Flemming". Es ist mein Herzensprojekt, von dem ich schon seit vielen Jahren träume.



August Christoph von Wackerbarth (1662-1734) und Jakob Heinrich Flemming (1667-1728) waren die Stützen Augusts des Starken. Wackerbarth wurde als Bauminister zum "Regisseur des Dresdner Barock", war aber auch als Gouverneur und Generalfeldmarschall für die Verteidigung und Militärpolitik zuständig und darüberhinaus langjähriger Gesandter am Wiener Hof. Er beriet den König als Kabinettsminister und war auch in seinem Geheimbund vertreten. Nicht zuletzt hat er sichin Sachsen für den Weinanbau eingesetzt - weshalb heute noch der Wackerbarth-Sekt bekannt ist - und das Ingenieurbildungswesen reformiert. Er kann als einer der Väter der deutschen Ingenieurskunst gelten.

Flemming seinerseits ist in Sachsen als intriganter Minister in Verruf geraten, da er August dem Starken die Finanzen für die Königswahl in Polen organisierte und in der Geschichtsschreibung sehr schlecht dargestellt wurde. Allerdings waren seine Beziehungen zu Polen und sein Organisationsgeschick für den König von unschätzbarem Wert. Er war dirigierender Kabinettsminister und ebenso wie Wackerbarth Gesandter, Gouverneur und Generalfeldmarschall. 

Beide standen sich sehr nahe und betitelten sich als "mon chére frere". Bislang steht eine Biografie dieser zentralen Akteure noch aus. Die Landesgeschichtsforschung hat sich an die überbordende Menge der Quellen der Augusteischen Ära noch nicht herangewagt. Und in der Tat ist es eine schier unübersehbare Menge Arbeit. Allein im Sächsischen Hauptstaatsarchiv lagern:

47 Akten Korrespondenzen zwischen Wackerbarth und Flemming

9 Akten Korrespondenzen zwischen dem König und Flemming

4 Akten Korrespondenzen zwischen dem König und Wackerbarth

614 Akten tragen Wackerbarths Namen im Titel

1312 Akten tragen Flemmings Namen im Titel.

Darüberhinaus sind Dutzende Bestände durchzusehen nach weiterem, in anderen Akten liegenden Material über die beiden Minister. Es sind auch weitere Archive zu besuchen: das Dresdner Stadtarchiv, 27 weitere Archive in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, 14 Archive in Deutschland, 30 Archive in Europa. Ein Lebenswerk.

Das Ziel ist die wissenschaftliche Erschließung der Korrespondenzen dieser zwei wichtigsten Minister von August dem Starken. Im Ergebnis soll eine Doppelbiografie geschrieben werden und eine Website entstehen, auf der die Quellen in Form einer Datenbank (mit Übersetzung), Itineraren, Netzwerken und Kalender für die Jahre 1691-1734 recherchierbar sind.

Die Arbeit zu strukturieren ist nicht schwer.

1. Aufnahme der Metadaten 

2. Lektüre der  Quellen - Transkription - Übersetzung

3. Analyse mithilfe von Fachliteratur

4. Verschriftlichung des Textes

5. Einrichtung von Frontend und Backend

In der ersten Woche habe ich neun Bücher aus der SLUB ausgeliehen, um mir für einen DFG-Antrag theoretisches Rüstzeug zu holen. Die Bücher behandeln Sicherheit in der Frühen Neuzeit, globale Wissensgeschichte, Mikrogeschichte und aktuelle Forschungen zur Frühen Neuzeit.

Die bereits voriges Jahr erstellte Access-Datenbank für Akten wurde nun mit den ersten Quellen gefüllt und weiter verbessert. Vom Grafen Wackerbarth sind 36 Akten digitalisiert, vom Grafen Flemming 206 Akten. In ein Access-Formular werden die Akten mit Metadaten und Inhaltsangabe eingetragen, in ein anderes die Briefe transkribiert. Eine weitere Excel-Tabelle enthält den Kalender, wo ich für den König, Wackerbart und Flemming jeweils aus den Quellen ihr Tagewerk zu rekonstruieren versuche. In einer anderen Excelliste werden die Aufenthaltsorte mit Datum notiert, so dass sich am Ende ein Itinerar erstellen lässt.

Die Personendatenbank zu führen ist am aufwändigsten, da sie gleich alle Metadaten für ein  Personennetzwerk enthalten muss. Das bedeutet, dass für jede erwähnte Person Namen, Vornamen, Titel, Lebens- und Sterbedaten sowie die Identifizierungsnummer GND und VIAF eingetragen werden muss. Nach einem Monat enthält die Liste 41 Personen.

Für die umfangreiche Literatur habe ich eine eigene Access-Datenbank für Literatur angelegt. Die verfügbaren Literaturdatenbanken sind alle kostenpflichtig, sobald man einen gewissen Umfang an Datensätzen benötigt. Und da ich mit Access inzwischen Übung habe und die Excel-Tabellen erfahrungsgemäß zuverlässig funktionieren, habe ich mich dafür entschieden, mein eigenes Ding zu machen. Ich kann stolz darauf sein, dass ich diese Datenbank in drei Stunden auf die Beine gestellt habe. Auch diese Datenbank habe ich mit der Realität abgeglichen, indem ich schon mehrere Titel, die ich lesen werde, eingegeben habe. Dabei bin ich auch auf einen Fund gestoßen, der mich aufhorchen lässt: ein mir bislang unbekannter Kupferstich in einer holländischen Übersetzung einer Publikation über Wackerbarth von 1735.

 


Das Handwerkszeug ist also bereit - bis auf Kinderkrankheiten, die sich Stück für Stück beseitigen lassen. 

So hat die Aktendatenbank noch keine zufriedenstellende Verschlagwortung. Deshalb habe ich eine weiteres Feld eingefügt. Unter "Ressorts" werde ich jeder Akte zuordnen, ob sie zur Außenpolitik, Wirtschaftspolitik usw. gehört. Die Schlagworte sind dann spezieller. Für die Einrichtung dieses neuen Feldes habe ich zwei Stunden gebraucht. Ich muss nur noch die Mehrfachauswahl einrichten; das ist immer eine kompliziertere Sache und ich hab's schon mal hingekriegt, ich weiß nur nicht, wie.

Nach vier Wochen enthält die Archivaliendatenbank 167 Akten. Am ersten Archivtag habe ich drei Briefe abgeschrieben und die Instruktion für die Gouverneure zu einem Drittel transkribiert. Zudem habe ich im Archiv unveröffentlichte Manuskripte von anderen Forschern entdeckt. Das Archiv ist eine Goldgrube, und ich wünschte, ich wäre nach sechs Stunden nicht so müde, sondern könnte Tag und Nacht weitermachen. Am besten wäre es, ich wäre mal nachts im Archiv oder in der Bibliothek eingeschlossen...



Mittwoch, 6. Juli 2022

Meine ersten Tests

 Kaum war der Wechselunterricht gestartet, habe ich beschlossen, meine Schüler zu quälen. Solange die Schulen offen waren, musste ich eine schriftliche Note einheimsen. Also Tests schreiben. Die Begeisterung hielt sich in Grenzen. Natürlich waren auch meine KollegInnen auf dieselbe Idee verfallen und so hatten die Kinder jetzt jede Woche Arbeiten. Ich staffelte die 14 Gruppen so, dass ich in vier Wochen durch wäre. 

Mein erster Entwurf wurde von meiner Kollegin kritisch geprüft, und sie hatte recht: die ersten drei Aufgaben, die ich auf Kindergartenniveau vermutet hatte, waren fabelhaft, aber die anderen drei viiiel zu schwer. Also überarbeitete ich die Aufgabenstellung und ließ weniger schreiben. Jetzt sollten die Schüler zuordnen, ankreuzen, markieren usw. Ich sagte den Kindern ziemlich genau, was dran kommen würde. Sowas hatten unsere Lehrer früher mit uns nie gemacht. Und da alle Kinder die E-Mails von uns haben, wurde ich auch regelmäßig von einzelnen Schülern angeschrieben, ob ich nicht noch genauer sagen könnte, was sie lernen sollten, das wäre alles viiiiel zu viel. Ich gab Tips, wo ich konnte, aber genau diese 11/12jährigen Kinder saßen dann mit Tränen in den Augen vor einem und wussten nicht, was Ebbe und Flut ist oder wo Großbritannien liegt, obwohl wir beides lang und breit behandelt hatten. 

Nach dem ersten Test beschloss ich, "Starthilfe" einzuführen. Die Kinder konnten sich also während des Tests melden, wenn sie total auf dem Schlauch standen, etwas auf der Zunge lag oder sie einfach keinen blassen Schimmer hatten. Manchmal genügte dann ein kleiner Hinweis, aber manchmal ... Mannomann, da guckten einen ahnungslose Augen an, als ob sie NOCH NIE IM LEBEN das Wort Steppe gehört hatten, obwohl das eines der drei vorher fürs Lernen genannten Themen war. Da saßen Kinder, die einfach nicht gelernt hatten und in den Lückentext frech das Alphabet einfügten von a bis z. Oder die unter die Aufgabe schrieben: "hab ich nicht gelernt, aber für den hübschen Smiley kriege ich doch bestimmt einen Zusatzpunkt, ooooder?" Nö. Der Bursche war zwei Punkte von der 4 entfernt - da hätte er schon zwei Smileys malen müssen. Das schrieb ich ihm auch so hin.  Schließlich mussten wir die Noten entlang einer Punkteskala ermitteln, die von der Schule festgelegt war. Da gab es keinen Verhandlungsspielraum.

Wahrscheinlich merkten die Kinder jetzt, dass ich tatsächlich auch eine knallharte Lehrerin sein kann. Vorher immer so netten Unterricht, mit Bildern, Basteln, Filmchen und Spielen. Und jetzt macht sie das! Tja, Kinder, das Leben ist grausam und schrecklich gemein! 

Aber zum Ausgleich gibt es keinen zweiten Test. Stattdessen dürfen die SchülerInnen aus der 9. Klasse ein Poster präsentieren und ich habe ihnen dafür 14 sehr coole Themen zur Auswahl gegeben - von Piraten im Pazifik über Himalaya-Expeditionen, Sundarbans Tiger, über Walfang bis hin zur Transsibirischen Eisenbahn und Fukushima und den historischen Gewürzrouten.  Wen wundert's: sie sprangen sofort darauf an und prügelten sich fast um die Piratenposter.

Die Jüngeren werde ich auch mit einer ähnlichen Aktion ruhig stellen: die Oberschüler dachten schon direkt nach dem Test, dass er in die Hose gegangen ist und boten Vorträge an - über die Schweizer Schokolade, die Vulkane Italiens oder ähnliches werde ich auch da eine nette Liste machen. So habe ich was davon - ich kann delegieren und sie lernen im Internet recherchieren und vortragen. Ich bin mal gespannt, was so rauskommt.


Samstag, 10. April 2021

Chaos und Creation

Seit einigen Wochen ist in unserer Schule der Wechselunterricht eingezogen. Es ist ein Kompromiss, dass die Schüler wenigstens alle 14 Tage mit der Hälfte ihrer Klasse richtigen Unterricht haben können.

14 ist die Zahl der Stunde. Ich hab jede Stunde 12 SchülerInnen für 2 Stunden. 14 Gruppen. Und alle 14 Gruppen müssen in die Schulcloud ihre Aufgabenblätter für die Distanzschüler (Gruppe 1) vor dem Unterricht und die Powerpoint nach dem Unterricht der Präsenz-Gruppe II hochgeladen bekommen.  Oder eben andersherum. Es klingt nicht nur kompliziert. Es ist auch so.


Das heißt, alle Klassenlehrer haben ihr Klasse halbiert und dabei nach Möglichkeit auf die Wünsche der SchülerInnen Rücksicht genommen ("Ich will aber nicht mit dem Max zusammen!" oder "Ich muss unbedingt die Sophia dabei haben! Aber nicht den Elias!" - "Doch, den will ich aber!"). Es muss die Quadratur des Kreises gewesen sein, was da geleistet wurde, denn jedem war klar, dass dieses Modell nicht nur für drei Wochen angedacht war, sondern über Monate hinweg. Das ist für Kinder schon fast eine Scheidungserfahrung, da sie die Hälfte ihrer Mitschüler jetzt viele Monate hinweg nicht mehr treffen, und sie ja zuvor monatelang schon nicht gesehen haben. 

Manche Lehrer haben einfach die Halbierung der Klasse vom Informatikunterricht zur Hand genommen und diese nochmals halbiert und dann das erste Viertel mit dem dritten zusammengelegt und das zweite mit dem vierten. 

Für mich war es egal - ich kannte die Kinder sowieso nicht persönlich und hatte schon im Distanzunterricht immer nur Namen genannt und Kinder gehört, ohne zu wissen,wie sie aussahen, die da sprachen. Wenn mehr als einer seine Kamera anmachte, flog man oftmals raus. Manchmal auch einmal so. Mehrfach in der Stunde. Ohne Vorwarnung. 

Da gerade Ostern war, hier noch der Running Gag in meiner Whatsapp-Gruppe: Jesus fragt beim Zoom-Meeting des letzten Abendmahls seine Jünger: "Hört ihr mich jetzt alle gut? Oh, Jacobus und Petrus sind auch schon wieder rausgeflogen."

Screenshot: twitter.com/Jon Brown@beardandbible

Spaß beiseite. Also, ich hatte Wechselunterricht ab 15. März. Und schon in der kurzen Zeit verlor ich schnell den Überblick: aus sieben Klassen wurden 14 Gruppen. Und jede Gruppe ist unterschiedlich schnell. Man muss sich also eine gute Übersicht machen, und trotzdem ist es nicht so einfach, weil ich gleich drei 6. Klassen habe und zwei 5. Klassen - und zwar sowohl Gymnasialklassen als auch Oberschulklassen mit jeweils eigenen Lehrwerken. Ich jongliere also mit 14 Gruppen, 5 Schulbüchern, 3 Atlanten. In mancher Klasse haben einzelne Kinder einen anderen Atlas als ihre Mitschüler. Einige Kinder kamen nicht in den Präsenzunterricht, weil sie oder die Eltern nicht mit den verpflichtenden Selbsttests einverstanden waren. 14 bunte Kugeln, und ich hab das Gefühl, ich kann dem Individuum gar nicht mehr gerecht werden.

Welche von denen waren nun schon bei Energiewirtschaft der Küste und welche noch bei Fischereiwirtschaft? War die Gruppe II von der 6c die mit dem Kind, das den weißen Atlas hatte? Und wo bin ich mit Gruppe I der 5b stehengeblieben, die nicht so schnell war wie die Gruppe I vor einer Woche? Was ist mit Henry in Quarantäne, den kann ich bei diesem Thema schlecht zuschalten, also extra Aufgabenzettel schreiben. 

Dutzende Mails. Lehrer mit Informationen über zu Hause bleibende Schüler, die dann wohl doch noch kommen, Fachbereichsleitungen mit LAAAANGEN E-Mails voller AKTUELL! WICHTIG! TEST! NICHT VERGESSEN! und Dutzenden Anhängen, die teilweise ausgedruckt und unterschrieben werden müssen. Rückfragen von verwirrten Kindern. Verwechslungen von Atlantenseiten. Eltern mit Nachfragen wegen der Benotung der letzten Langzeitaufgabe. Verwechslungen von Gruppen, denen ich für den soundsovielten den Geografietest angekündigt hatte. Irgendwann muss man ja zu seinen Noten kommen, also quetsche ich die Tests für alle 14 Gruppen in die wenigen Wochen nach Ostern, bevor möglicherweise oder voraussichtlich die Schule wieder schließen muss. Kein Wunder, dass man da auch Fehler macht. Trotzdem peinlich. Es ist, als ob man beim Billard die Schwarze versenkt.

Ich hoffe nun, dass die Tests gut über die Bühne gehen. Und für diejenigen, die nicht am Präsenzunterricht teilnehmen, hab ich ein besonderes Schmankerl: sie dürfen sieben Seiten im Arbeitsheft durchackern und schauen, wie weit sie in 45 min kommen und mir das dann einscannen und hochladen.

Ich muss dieser Tage oft an die Zeilen aus dem Song "Fine Line" denken.

Whatever's more important to you
You've gotta choose what you want to do
Whatever's more important to be
Well that's the view that you got to see

There is a long way
Between chaos and creation
If you don't say
Which one of these you're going to choose
It's a long way
And if every contradiction seems the same
It's a game that your bound to lose

Ich habe nicht vor, das Spiel zu verlieren. Ich nutze die Chance der halben Klasse.

In den 6. Klassen habe ich ein Planspiel über den Umbau von Paris 1853-70 durchgeführt - mit großem Erfolg! Die SchülerInnen bekamen alle eine Rolle und ein Infoblatt und haben dann als Architekt, König, Verkehrsminister, Militärgouverneur, Käsehändler, Tuchhändler, reicher Bürger, armer Künstler oder Arzt "gearbeitet" und ihre Position dazu kund getan, dass der neue Präfekt Baron Haussmann 20.000 Häuser abreißen und Boulevards anlegen will. Die Kinder waren voll bei der Sache und werden beim nächsten Parisbesuch bestimmt daran denken.

Charles Soulier, Panorama de Paris_Pris de la tour Saint Jacques, ca. 1865, Library of Washington, https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Charles_Soulier,_Panorama_de_Paris_-_Pris_de_la_tour_Saint_Jacques,_ca._1865.jpg

 In den 5. Klassen habe ich die Wiederholung der geografischen Fakten in ein Rätselspiel gekleidet. Die 12 Kinder wurden in zwei Gruppen geteilt und sind gegeneinander angetreten. Sie mussten von jedem Kontinent 1 Tier wählen, und hinter jedem Tier befand sich eine Frage, die irgendwie das Tier mit unseren Stundeninhalten verknüpfte. Es gab viel Spaß. 


 Meine Lieblingsfrage steckte hinter dem Löwen:

Der Löwe ist in Zentralafrika beheimatet. Wie weit ist dieses Land von Dresden entfernt, wenn bei einem Maßstab von 1:40.000.000 die Luftlinie 20 cm beträgt?

 Die eine Gruppe ging mit dem Spiel so mit, dass sie kurz johlten wie auf dem Fußballplatz. Die Tür zum Nachbarzimmer ging kurz auf, aber die Kollegin sagte zum Glück nichts. Ich werde in dieser Schule noch als Radaulehrerin berühmt. Peinlich. Aber ein bisschen Spaß muss sein...

Donnerstag, 18. Februar 2021

Der Fernunterricht, wie er leibt und lebt

 

Das neue Jahr hat begonnen. Die gute Nachricht: Wir haben einen neuen US-Präsidenten. Die schlechte: Es gibt Mutationen. Einige Freunde waren oder sind in QUarantäne. Ich habe schon zwei kleine Aufmunterungspäckchen verschickt. Uns hat es bisher gottlob verschont, und meine Eltern sind auch darüber hinweggekommen, wenngleich meine Mutter immer noch sehr üble Nachfolgen spürt. Das einzig Gute daran ist, dass sich Gesellschaft, Technik und Forschung gezwungenermaßen rasch weiterentwickeln müssen und es eine sehr spannende Zeit ist.  Wir sind so dicht am Atem der Zeitgeschichte, und dabei sein zu können, wenn Geschichte geschrieben wird, ist für mich schon toll. Somit scheint uns der Online-Unterricht erstmal erhalten zu bleiben. Und beim Abstandhalten, sogar für Familie Schneemann.


Seit Montag sind wenigstens die kleineren Kinder wieder in Kindergarten und Grundschule. Nie werde ich vergessen, wie sich im Raum die Stimmung veränderte, als ich meinen beiden Jungs sagte, dass sie Montag wieder in den Kindergarten und in die Schule gehen können. Erst war zwei Sekunden Stille, dann ein Schnattern, Pläneschmieden und leuchtende Augen. Das war so eine Erleichterung für sie - und für mich!

Ich habe in den letzten Monaten nervlich am Limit gearbeitet. Dabei war es für mich eine Erholung, die Unterrichtsstunden vorzubereiten und zu halten. Die Kinder waren lieber im Online-Unterricht, als dass sie Aufgabenzettel lösen mussten. Also habe ich versucht, es so oft es ging zu realisieren. Aber dafür musste der Kleine untergebracht werden, was nicht immer leicht war. Und es war mir zuwider, dass die Kinder wie "Manövriermasse" umhergeschoben wurden. Außerdem war es kurz vor dem Halbjahreszeugnis eine echte Herausforderung, noch die benötigten Zensuren zusammenzukratzen. Hausaufgaben in die Cloud hochladen lassen und dann bewerten. Einigen Kindern musste ich hinterherrennen, wenn sich Dateien nicht öffnen ließen, weil der Schüler sie in einem falschen Format abgelegt hatte - nämlich statt ".jpg" oder ."pdf" mit ".schmidt", also seinem Nachnamen. Auf so eine Idee muss man erstmal kommen. Einer Klasse musste ich auch noch einen Test zumuten. Dann kam noch eine unerfreuliche Mail einer Mutter, deren Tochter sich wochenlang gar nicht im Onlineunterricht gemeldet hatte und auch keine Hausaufgaben hochgeladen hatte, aber aus dem Schuljahresanfang eine Eins hatte, und als ich nun eine Übungsaufgabe bewertete, die ihre Tochter auf 2 rutschen ließ, da bekam ich die Mail, dass ich doch bitte diese zweite Note streichen sollte, damit das Kind sich nicht um eine Note verschlechtert. Wir haben dann den Deal gemacht, dass sie alle Hausaufgaben hochlädt, die sie auch ganz fein gemacht hatte...

Der Onlineunterricht macht Spaß, aber hat seine Tücken. Einmal bin ich achtmal in einer Stunde rausgeflogen, manchmal sind Kinder rausgeflogen und konnten sich nicht mehr einwählen. Manchmal hören sie mich nur abgehackt und mancher hört mich gar nicht, so dass ich alles, was ich sage, parallel in den Chat schreiben muss. Jede Stunde muss als PDF in die Cloud hochgeladen werden, damit die Schüler nachträglich die Stunde nochmal anschauen können, wenn es technische Probleme gab. Es ist sagenhaft, wieviel die Kinder derzeit leisten. Mit welcher Selbstmotivation und Zähigkeit sie sich jeden Tag aufraffen, alleine im Zimmer Zettel für Zettel abzuarbeiten oder stundenlang in den Laptop zu gucken. Wie die Familien es schaffen, angesichts der auszudruckenden, auszufüllenden, einzuscannenden, hochzuladenden Papierflut in zahllosen Fächern den Überblick zu behalten, verdient höchste Anerkennung! Aber mehr als ein bisschen Applaus oder Schulterklopfen und warme Worte werden vom Staat nicht kommen. Obwohl viele Eltern am Durchdrehen sind angesichts der Zerreißprobe zwischen Pflicht und Schweinehund und wegen ausbleibender Kontakte mit Freunden zum Zerreißen gespannnten Nerven. Die Stimmung auch bei uns war zwischendurch ein paar Mal bedenklich. Ich hoffe nur, die Seelen der Kinder nehmen keinen dauerhaften Schaden und erholen sich, wenn sie mit dem warmen Frühlingswetter wieder schöne Erfahrungen mit ihren Gleichaltrigen machen können und auch ihre Eltern wieder von einer entspannteren Seite erleben können. Ich stelle mir wunderschöne Sommerparties, Wanderungen mit Freunden und Livekonzerte, Lesungen und Museumsbesuche, Schwimmbad- und Saunatage, Messebesuche und Urlaubsfrieden. Aber bis dahin dauert es noch. Gestern stand in der Zeitung, ein australischer Wissenschaftler meinte, diese Pandemie könnte fünf bis zehn Jahre dauern. Bitte nicht!! Ich hoffe, sie haben ihn geknebelt und in sein Labor gesteckt, um ein Mittel zu finden, was das verhindert. Keiner meiner Schüler mag auch nur noch eine Woche ohne Schule sein. Wer hätte das gedacht, dass sich unsere Kinder mal nach Schule sehnen?? 


Die 9. Klasse ist eine echte Herausforderung. Beim Onlineunterricht merkt und hört man fast nix und wenn man jemanden aufruft, weiß der entweder nicht, auf welcher Seite wir seit 15 min sind oder das Mikro geht nicht oder er hat schlechten Empfang. Es zerrt an den Nerven, Minute um Minute damit zu vergeuden, ins Leere zu hören und auf Antworten zu warten. Nicht immer erbarmt sich einer. Die haben eine schier endlose sture Geduld und sitzen die 45 min einfach aus. Da habe ich jetzt auch mal andere Saiten aufgezogen und ihnen ein rappelvolles Aufgabenblatt gegeben, das selbst ich in einer Stunde gerade so abarbeiten könnte. Da dürften sie sich eben selbst was erarbeiten - ich weiß, dass sie das hassen! Aber ich hab dadurch einen ruhigen Vormittag - herrlich!  Dabei habe ich ihnen wirklich ein abwechslungsreiches Erdkundemenü geboten: einen Podcast hören und Lückentext ausfüllen (da bekamen viele statt der üblichen 4 endlich mal eine super Note und retteten damit ihr Zeugnis), kurze Erklärvideos schauen, Topografie-Bingo und Skizzen malen. Eine Stunde über die Chinesische Mauer, eine über den Jangtsekiang und die Tigersprungschlucht. Aber es ist wahrscheinlich für Teenager wirklich sehr dröge, Asien kennenzulernen. Schade, dass wir zum Thema Reis nicht leibhaftig zusammensitzen konnten und Reissorten verkosten. Sowas hätte total Gaudi gemacht. Ich hätte von unserem Inder einige Soßen mitgebracht und wir hätten einen Bollywood-Film zusammen gesehen. Vielleicht hole ich das im Sommer nach, wenn wir endlich wieder "echten" Unterricht machen können.


 

Und für die 5. und 6. Klassen den Unterricht zu gestalten, ist einfach eine Freude. In der 5. ist Deutschland dran, und gerade haben wir zwei Doppelstunden zu Berlin gemacht. Die waren mit einem Feuereifer dabei, eine Stadtrundfahrt auszuarbeiten und haben mit Begeisterung einen kurzen Film über die Luftbrücke 1948 gesehen und fanden das Lied vom Wannsee ("Pack die Badehose ein..") einfach herrlich grauenvoll. Einer hatte sogar seinen Opa neben sich sitzen, weil der mal bei meinem Geografieunterricht dabeisein wollte.  Was macht das auch für Freude, ihnen anhand von Wanderkarten aus der Sächsischen Schweiz das Maßstabsrechnen beizubringen. Und die Wegeskizzen von einigen sind so wunderschöne kleine Kunstwerke - Mein Weg von zu Hause ... zur Schule, zur Elbe, zur Frauenkirche, zum Pferdehof, zur besten Freundin, zum Zoo, zum Eiscafé... - Sogar meinem Vorschlag, Geocaching mit den Eltern zu machen, sind auch einige gefolgt und haben berichtet. Manche haben das Tischdecken-Experiment zum Faltengebirge gemacht, und weitere Experimente und die kleine Exkursion muss ich noch verschieben. Ich freue mich schon, wenn wir dann endlich im Gelände unter freiem Himmel als Wettbewerbsspiel in Gruppen die Karte einnorden können, Fließgeschwindigkeit bestimmen und Bachquerschnitt zeichnen können. Das geht ja nur in der "echten" Natur. Bis dahin muss ich mir anders behelfen, um sie bei Laune zu halten. Diese Woche haben wir einen Rundflug mit Googlemaps von Dresden über Berlin zur Ostsee und Nordsee gemacht, und nächste Woche sollen sie Ansichtskarten vom Urlaub zum Zeigen in die Onlinekonferenz mitbringen. Das wird dann ein buntes digitales Kartenzeigen anstelle der gedachten Wäscheleinen-Ausstellung im Klassenzimmer. 



In der 6. Klasse steht Europa auf dem Plan, und ich habe eine richtig coole Stunde zu Island gemacht, wo die Kinder aus Jules Vernes "Reise zum Mittelpunkt der Erde" etwas in verteilten Rollen gelesen haben. Sie haben zur Glazialen Serie ein paar coole Sachen machen können, u.a. ein Experiment mit Sand, Kaffee und Eiswürfeln. Es gab eine spannende Stunde zum Baltikum und Ostpreußen -  da werde ich nächstes Mal noch etwas Filmisches einbauen, z.B. vom Ritt der Gräfin Dönhoff aus Ostpreußen. Wir haben die Steppen durchgenommen, und ich hätte so gern bei der Puszta ungarische Salami, Eselskäse und Pusztasalat verkosten lassen! Wenn die Schule für sie wieder öffnet, werde ich das als Willkommensgruß mitnehmen. Zuletzt war Schlesien mit seiner Wirtschaft dran, wo sie den Strukturwandel kennenlernten und mal kurz Bürgermeister spielen konnten. Das hat auch gefetzt. Und diese Woche haben sie gejubelt, dass England drankam. Wir haben zusammen Yellow Submarine geguckt (Lied mit Ausschnitten aus dem Trickfilm) und sie haben jetzt 14 Tage Zeit für ein Poster zu Liverpool oder eine Zeitreisegeschichte, was James Watt sagen würde, wenn er zur Baustelle des Weltraumbahnhofs in England reisen könnte. Ich bin gespannt!


Gestern hatte ich Sondereinsatz zur Zeugnisausgabe. Da war ich in einem Klassenzimmer Herrin über die Zeugnisse von elf Klassen. Da lagen über 200 Zeugnisse in Mappen vor mir, und es ging eine Aura davon aus - sagenhaft! Wer sich das Zeugnis abholte, bekam auch etwas Schokolade von mir mit auf den Rückweg, und darüber haben sie sich gefreut. Manchmal waren Eltern dabei, und ein Dialog war sehr schön. Ich sagte zu dem Jungen, dass wir uns ja früh in der Onlinekonferenz gehört haben. Und die Mutter fragte ihn, welches Fach, und als er sagte "Geografie", da kam von der Mutter die Reaktion: "Ach, DAS ist die neue Lehrerin, die alles viel besser erklären kann??" Na, sowas geht runter wie Öl.

Eine Peinlichkeit will ich hier noch offenbaren: Wir mussten unsere Wünsche für das neue Schuljahr per Mail an die Chefin zurückschicken, und ich habe aus versehen "Allen antworten" gedrückt. Danach wurde mir heiß und kalt. Aber eine geschickte E-Mail ist unwiderruflich weg. Also hab ich mich hingesetzt und folgende Mail an alle geschrieben: 

Liebe 92 KollegInnen,
ich bitte um Entschuldigung, dass versehentlich mein Wunschzettel an Frau Brauer an alle ging! Da waren die Finger fixer als der Kopf. Ich gelobe, ich mache nicht mehr soviel Rous.
Das Einfangen einer entfleuchten Mail ist tatsächlich etwas, was noch zu wünschen wäre.
Von allen wünschte ich mir bloß, dass ich mal alle leibhaftig kennenlerne...
Wünsche allen ein gutes Durchkommen!
Viele Grüße
...

Ich bekam ein positives Feedback und habe damit sogar eine Lehrerin angeregt, dass wir alle uns mal online austauschen, wie es uns als LehrerInnen am Limit geht. Ich selbst habe ja von den 92 KollegInnen nur eine Handvoll kennengelernt und musste schon einige Mails an Klassenlehrer schreiben, die ich nicht kenne über Kinder, die ich nicht kenne. Aber hey, aufhören zu jammern! 
Es wird Frühling!


Montag, 21. Dezember 2020

Beethoven und sein ökologischer Fußabdruck

 

Ta-ta-ta-taaaaa! Auf diesen Tag habe ich lange gewartet. Am 17.12. wurde Ludwig van Beethoven getauft, dem ich mich ziemlich verbunden fühle. Ich bin mit seinen Sinfonien und Sonaten aufgewachsen, habe mehrere Biografien gelesen und verbringe fast täglich einen Teil meiner Freizeit am Klavier mit seinen Stücken.

An seinem 250. Geburtstag wollte ich ihm in Dresden einen Baum pflanzen. Da ich genug anderes zu tun hatte, habe ich erst im Herbst die Sache genauer geplant. Zu diesem Zeitpunkt ging gerade eine Nachricht durch die Presse, dass der Waldpark wegen der Borkenkäfer- Plage so große Schäden erlitten hat (die ich bestätigen kann!), dass eine Initiative zu seiner Rettung ins Leben gerufen wurde. Die Bürger wurden um Unterstützung gebeten. Da ließ ich mich nicht zweimal bitten und schrieb am 10. September die zwei politischen Köpfe der Initiative an:

Sehr geehrte Frau Dr. Vogel, sehr geehrter Herr Dr. Deppe,

 ich habe die Poster zur Initiative „Waldpark retten“ gelesen, konnte aber leider heute nicht teilnehmen. Mir liegt dieser Park auch sehr am Herzen, und ich würde gern eine Idee einbringen, die ich schon voriges Jahr hatte: Als Beethoven-Fan möchte ich gern zu seinem Jubiläum einen Baum pflanzen - bekanntlich, jährt sich am 17. Dezember sein Geburtstag zum 250. Mal. Beethoven selbst liebte den Wald und schrieb die meisten seiner Kompositionen auf Spaziergängen im Wiener Wald („Wie glücklich bin ich unter Bäumen wandeln zu dürfen“). In seinen Sinfonien und Sonaten hört man Spechte klopfen, Nachtigallen schlagen, den Kuckuck und die Wachtel rufen. Insofern ist das sicher ein passendes Signal, einen Beethoven-Baum zu pflanzen ähnlich den zahlreichen Luthereichen.

Da Beethoven durch seine Kompositionen die Weiterentwicklung des Pianoforte vorangetrieben hat, wäre eine Baumpflanzung als Ausgleich für die zahlreich für Instrumentenbau gefällten Bäume ein ökologisch sinnvoller Akt. Wie überliefert ist, hat Beethoven im Zuge seines Schaffens mehrere Dutzend Flügel kaputt gespielt, da er wegen seiner Ertaubung auf die Tasten der damals noch recht leise klingenden Flügel eindreschen musste. Er hatte solch einen Verschleiß, dass er die Klavierbauer unter Druck setzte und z.B. einmal schrieb: „Leben Sie wohl, wenn Sie ein Piano schicken, und übel, wenn nicht!“ Durch seine Initiative wurden die Flügel akustisch immer besser – und auch stabiler. Das Hammerklavier wurde damals aus Fichten- und Eichenholz gebaut, und man müsste eigentlich eine kleine Ansammlung mehrerer Bäume, einen „Beethoven-Wald“ pflanzen, um seinen ökologischen Fußabtritt zu verbessern. 

Der Waldpark erscheint mir ein ausgezeichneter Ort zu sein, und Ihre Initiative las sich auf dem Poster so, als würden Sie eine solche Idee dankbar aufgreifen. Falls sich eine solche Baumpflanzung realisieren ließe, würde sich evtl. genug Sponsoren finden, die einen Baum für ein kleines „Beethoven-Wäldchen“ finanzieren würden. Ansonsten würde ich jedenfalls gern wenigstens einen Baum setzen. Mit dem Amt für Stadtgrün und Abfallwirtschaft habe ich noch keinen Kontakt.

Beethoven war übrigens 1796 im Alter von 26 Jahren zweimal in Dresden. Er erreichte Dresden von Prag kommend am 23. April, und über ihn hieß es: „Er soll sich unendlich gebessert haben und gut komponieren.“ Er spielte am 29. April im Privatgemach der Kurfürstin vor und gab auch dem König ein anderhalbstündiges Konzert auf dem Klavier, bevor er nach acht Tagen nach Leipzig und Berlin weiterreiste. Auf dem Rückweg machte er abermals Station in Dresden und gab ein „magnifiques Konzert“ und reiste dann nach einigen Tagen mit der befreundeten Familie Kalkbrenner nach Wien. Seine Karriere begann mit der damaligen Konzertreise; es blieb seine einzige Tournee. Er komponierte allerdings nichts in Dresden: vor der Abreise gab er das Streichquartett op. 4 seinem Verleger, und erst in Berlin wurde er wieder zu seinen Cellosonaten op. 5 inspiriert.

Zusammenfassend möchte ich Sie bitten, mein Anliegen um eine offizielle Baumpflanzung zu prüfen und ggf. zu unterstützen. Falls sich unsere Interessen hier decken, würde ich mich freuen, von Ihnen zu hören. Übrigens würde ich bei evtl. Anfragen o.ä. gern als Initatorin dieser Aktion mitgenannt werden. Alles Weitere würde sich besprechen lassen.

 Mit freundlichen Grüßen,

[...]   

Die beiden waren angetan von meiner Idee. Als "musikaffine Menschen" fanden sie das sogar sehr originell und unterstützenswert und besprachen sich mit ihren Fraktionen und den zuständigen Beamten im Amt für Stadtgrün und Abfallwirtschaft.

Das dauerte. Im November hörte ich, dass das Amt noch keine Stellung genommen habe, dass man aber im Stadtrat eine Anfrage einbringen könnte, unter welchen Voraussetzungen Private Aufforstungsmaßnahmen im Waldpark vornehmen dürfen. Ein Telefonat Ende November signalisierte mir, dass die Verwaltungshürden dafür zu hoch sind und man nur mit Geldspenden für Bäume im nächsten Jahr das Amt für Stadtgrün unterstüzen könne. Konkret begründete das Amt seine Absage wie folgt:

[...] Grund dafür sind allgemein Haftungsfragen (Verkehrssicherungspflicht), die unabsichtliche Verbreitung von Schadorganismen (zum Beispiel Asiatischer Laubholzbockkäfer) oder Verstoß gegen andere Vorschriften (Denkmalschutz, Naturschutz, Giftpflanzen an Spielplätzen etc.). Im Waldpark Blasewitz kommt hinzu, dass der überwiegende Teil Wald ist und nach Sächsischem Waldgesetz nur zertifiziertes Saat- und Pflanzengut verwendet werden darf. Auch kann die Pflanzung im Waldpark erst nach Genehmigung von Art/Arten und Umfang durch die Denkmalschutzbehörde begonnen werden. Auch wir warten derzeit noch die Abstimmung mit der Denkmalschutzbehörde ab - zugleich beobachten wir die Lage im Waldpark. Durch den Schädlingsbefall ist eine frühzeitige Nachpflanzung ebenfalls nicht unbedingt sinnvoll, auch wenn sie wünschenswert erscheint.

Am Effektivsten ist die Unterstützung für den Bürger durch eine Spende auf den "Fonds Stadtgrün Dresden. Stadt in der Landschaft" mit Ergänzung Waldpark Blasewitz möglich.  [...]

Nun ging es mir ja nicht darum, ein paar Euro irgendwohin zu schieben. Meine Idee, dem lieben Beethoven in Dresden einen Jubiläumsbaum zu stiften, drohte zu scheitern. Da haben unsere Vorfahren es immer hinbekommen, eine Luther-Eiche, eine Bismarck-Eiche oder ähnliche Gedenkbäume zu pflanzen. Es gibt in Kaditz sogar eine 400jährige Linde für einen Schulmeister! Auf der Räcknitzhöhe stehen gleich drei Eichen für den dort 1814 verletzten französischen General Moreau. Es gibt in Dresden Schillereichen und -linden, Lutherbuchen-, -eichen und -linden, eine Moltkeeiche, zahlreiche Bäume für König Albert, eine Karnevalseiche, Bäume für die Befreiungskriege und so gar mehrere Bäume zur Deutschen Einheit 1990 und Bäume für Ehrenmitglieder von irgendwelchen kleinen Vereinen. Es gab auch mal eine "Präsidentenbuche" für den Präsidenten der "Vollmondgesellschaft zum Weißen Hirsch". Die Liste der Gedenkbäume in Dresden ist lang und zählt über 80 Bäume. Bei soviel Prominenz kann ein Baum für den (neben Bach) größten deutschen Komponisten ja nicht schaden. Richard Wagner hat auch einen Baum in Dresden. Da wäre er nicht mehr so ganz allein als Tondichter. Und Beethoven ist vielleicht politisch ein kleines bißchen korrekter angesichts seines Eintretens für Weltfrieden und Freiheit. Dresden könnte sich mit dieser Aktion schmücken. Noch dazu, wo in ganz Deutschland niemand (!!) diese Idee bislang ins Auge gefasst hat. Es werden jede Woche in Dresden Bäume gepflanzt, also könnte man ja eine dieser Pflanzungen dem Geburtstagskind widmen. 

Dachte ich. Ich schrieb also von meiner Seite nochmal direkt an das Amt und schlug einen Kompromiss vor:

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich habe im Herbst bei den Fraktionen der Grünen und der SPD bereits eine Idee eingebracht, im Blasewitzer Waldpark einen oder mehrere Bäume zum Geburtstagsjubiläum Ludwig van Beethovens zu pflanzen. Das gestaltet sich offenbar etwas schwieriger bzw. ist derzeit unmöglich, was wohl auch mit dem sensiblen Standort „Waldpark“ zusammenhängt. Dafür habe ich natürlich volles Verständnis.

Daher möchte ich fragen, ob es im Stadtgebiet einen Ort gibt, an dem es unproblematisch möglich wäre, im Dezember einen Baum zu pflanzen? Dies wäre eine private Einzelaktion, also ohne Gruppe, so dass coronabedingte Auflagen entfallen. Mir wäre es auch egal, welche Baumart es sein soll. Wünschenswert wäre natürlich ein Ort, der nicht ganz in der Peripherie liegt. Eine nur finanzielle Spende für einen Baum wäre mir nicht recht, da die Pflanzung gerade zum Jubiläum wichtig ist und noch dieses Jahr erfolgen sollte. Falls Sie jetzt im Dezember ohnehin Pflanzungen planen, könnte auch einer dieser zu pflanzenden Bäume als „Jubiläumsbaum“ bezeichnet werden. Wahrscheinlich haben Sie auch städtische Vorgaben, wie eine kleine Tafel mit einer minimalen Beschriftung auszusehen hat und können mir sagen, wie sich das realisieren lässt.

r eine Antwort wäre ich Ihnen sehr dankbar.

Mit vielen Grüßen

[...]

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten und war reichlich deprimierend:

[...] wir danken Ihnen für Ihre Anfrage und Ihre schöne Idee, Beethoven einen Baum zu widmen.
Leider ist es ganz schwierig, Ihre Vorstellungen im öffentlichen Grün der Stadt Dresden umzusetzen.

Baumpflanzungen benötigen immer eine entsprechende Planung und dazugehörige Genehmigungen. Der Waldpark Blasewitz ist nach dem Gesetz Wald und außerdem eine denkmalgeschützte Parkanlage. Baumpflanzungen erfordern hier zusätzlich eine denkmalschutzrechtliche Genehmigung. Außerdem, und das gilt für alle Baumpflanzungen auf städtischen Flächen, werden diese immer entweder von städtischen Regiebetrieb oder von beauftragten Fachfirmen ausgeführt.

Es ist also leider nicht möglich, dass Sie selbst einen Baum pflanzen können.

Der einzige Weg ist der über eine Spende zugunsten des Fonds Stadtgrün. Auch nur darüber kann dann ab einer Spende von mind. 250 Euro ein Schild am Baum angebracht werden (nach eigenem, mit uns abgestimmten Textwunsch und nicht in denkmalgeschützten Parkanlagen). Da die Pflanzsaison seit Anfang November läuft, sind die in diesem Jahr eingegangenen Spenden in Abstimmung mit den Spendern bestimmten Vorhaben zugeordnet. Jetzt eingehende Spenden kommen zukünftigen Projekten zugute.

[...] wir bitten Sie für diese Bedingungen um Verständnis. Vielleicht ist dann doch der Fonds Stadtgrün einen Option für Sie, auch wenn der Baum dann ein Jahr nach dem Jubiläum gepflanzt würde. Alle Informationen rund um die Baumspende finden Sie unter www.dresden.de/baumspende . Eine weitere Option wäre vielleicht auch eine Baumpflanzung auf einem der Dresdner Friedhöfe - allerdings denke ich, dass selbst pflanzen auch hier nicht möglich ist. Die Dresdner Friedhöfe finden Sie im Themenstadtplan https://stadtplan.dresden.de/spdd.aspx?permalink=1eAuliuP, die Kontakte zu allen Dresdner Friedhöfen unter www.dresden.de/friedhof. [...]

Da saß ich nun. Die Idee, zum Jubiläum einen Baum in Dresden zu pflanzen, war damit gestorben. Und ich selbst kam nun wegen des vermaledeiten Lockdowns, und weil ich meinen Zwerg in Quarantäne bewachen muss, nicht mehr in einen Baumarkt oder eine Baumschule, um wenigstens privat für mich ein Bäumchen zu pflanzen.


Beethoven unter einem Baum sitzend, Michel Katzaroff, Mitte 20. Jh.,  Beethoven-Haus Bonn, B 928

Armer Louis. Nun guck nicht so traurig! Ich hol das nach, zum 251. Geburtstag - versprochen! Vielleicht macht ja einer mit. Man könnte Rotfichte, Rotbuche oder Ahorn pflanzen - daraus wurden die meisten Flügel gebaut. Steinway schwört auf die Sitka-Fichte aus Alaska...aber das dürfte etwas teuer werden. Jetzt habe ich ja noch 365 Tage Zeit, das vernünftig zu planen.

Und heute, an deinem Ehrentag, koche ich dein Lieblingsessen (Seefisch) und stoße mit Tokaierwein auf dich an und höre deine 6. Sinfonie, die schöne Pastorale mit ihren Spechten und Nachtigallen im Wald. Am besten gleich die herrliche Aufnahme von Leonard Bernstein, die bei Youtube schon über anderthalb Millionen Menschen gesehen haben. Und dazu gibt es als Dessert noch den Choral mit Klavierbegleitung "Blick, o Herr, durch diese Bäume!"

Und denke bei mir: Oh, ihr Kleingeister im Rathaus zu Dresden! Beethoven wünschte sich in seinem Heiligenstädter Testament nur eines: "Lebt wohl und vergesst mich nicht ganz im Tode." Aber natürlich muss eine Verwaltung Prioritäten setzen.

Dienstag, 15. Dezember 2020

Persönlichkeiten

 


Da laufen sie, Pünktchen und Anton aus Erich Kästners Kinderbuch. Hand in Hand und ein Herz und eine Seele. Es gibt viele Menschen, mit denen wir emotional verbunden sind, und die wir gerade nicht eben mal an die Hand oder in den Arm nehmen können. Aber es gibt diese Leute, die mir etwas bedeuten, weil ich mit ihnen etwas schaffe oder gestalte. Oft genug wissen diese Menschen gar nicht, wieviel sie Anteil an meinem Tun und Lassen haben. Denn ehrlich gesagt, fasse ich zu selten den Mut, ihnen zu danken für ihre Inspirationen, für die Worte, die sie sagen, für die Blicke, mit denen sie mich bedenken, für die kleinen Gesten und für die unbewusste Hilfe. 

Ich habe dieses Pünktchen-und-Anton-Bild schon lange in meinem Computer, weil es mich jedesmal anrührt und erinnert an Leute, mit denen ich Hand in Hand ein kleines Stück durch mein Leben gelaufen bin. Und dieser Tage an der Schule werde ich mir erst richtig bewusst, wie stark ich von meinen Lehrern geprägt bin.

Ganz oben steht meine Grundschullehrerin, der ich im Nachhinein soviel Respekt zolle, weil ich bei ihr wirklich fürs Leben gelernt habe und da schon erfahren durfte, was einen richtig guten Pädagogen ausmacht. Sie hat mich ermuntert, meine kleinen Kurzgeschichten zu meinen Plüschtieren weiter zu schreiben und ihr zum Lesen zu geben. Und sie antwortete: "Weiter so!", "Schön!" oder "Wie mag es wohl weitergehen?". Und fast prophetisch schrieb sie einmal darunter: "Vielleicht wirst du ja mal eine Lesung über deine Werke halten". (P.S. Das Bild dieser handschriftlichen Notiz füge ich später ein, da ich gerade nicht zu meinen Eltern kann, wo meine Kurzgeschichten noch aufbewahrt sind). Mein ganzer Sprachschatz begann bei ihr. Nie konnte ich ihr sagen, wieviel sie mir bedeutet hat und wieviel ich von dieser Grundschulzeit heute noch zehre.  Sie ging bald in Rente und dürfte heute schon tot sein.

Von meinen Schullehrern haben es kaum eine Handvoll in mein Herz geschafft. Es waren die echten Typen, die ihren Charakter hatten und ihr Fach mit vollem Enthusiasmus vertraten. Und - Überraschung! - es waren nicht die Geschichtslehrer mit ihrer spröden Art und den immergleichen hellblauen Quellen-Kästchen im Lehrbuch ("Lies Quelle 1 und fasse zusammen!") . Dass dieser stupide Geschichtsunterricht nicht mein inneres Feuer an der Geschichte erstickt hat, ist heute noch ein Wunder. Ich hatte ein Abo auf Dreien und in meiner gesamten Schulzeit nur einmal in Geschichte eine 1 - beim Dreißigjährigen Krieg, und den hab ich mir selbst interessant gemacht. Also, Geschichtslehrer waren für mich keine prägenden Lehrerpersönlichkeiten. Sondern ein cholerischer Lateinlehrer mit einem Faible für Sprache, einem Instinkt für Talente und einem generalstabsmäßigem Management, von dem ich mir viel abgeguckt habe. And die Exkursionen nach Rom und Griechenland habe ich unvergessliche Erinnerungen. Außer ihm gab es eine junge Englischlehrerin, die durch ihre Fröhlichkeit bestach und alles nicht so bierernst nahm, und einen hageren Pfarrer, der seelenruhig Religion unterrichtete und mich immer wieder nachdenklich machte. Von vielen anderen Lehrern habe ich noch die Namen oder ein paar Kleinigkeiten im Kopf, aber richtig was fürs Leben mitgenommen habe ich nur von diesen, weil sie gewissermaßen auf meinem Kanal sendeten. Vielleicht haben weniger introvertierte Menschen mehr Ausbeute an lebensprägenden Lehrern. 

Jenseits der Schullehrer war mir unsere Katechetin sehr wichtig, die uns Nächstenliebe vorlebte und soviel Sanftheit verströmte, wie man als kleiner Mensch braucht. Als sie fortging, war für mich die Straße sehr leer. Ich erinnere mich auch voller Dankbarkeit und innerem Strahlen an meinen Klavierlehrer, einen dynamischen jungen Mann im Stil von Michael Stich, der mir die schönsten Stücke so menschlich einfühlsam und locker beibrachte. Was haben wir auch für Spaß gehabt! Noch heute, wenn ich am Klavier sitze, flätzt er unsichtbar neben mir in seinem braunen Ledersessel und wippt mit den Turnschuhen oder schnalzt mit der Zunge. Ich habe seine handschriftlichen Einträge in den Noten jedes Mal vor mir und erfreue mich daran. Wie habe ich Rotz und Wasser geheult, als sich unsere Wege damals trennten! 

Sie alle waren es, die mich als Kind prägten, gewissermaßen unsichtbar meine kleine Hand nahmen und mich ein Stück des Wegs begleiteten. Ich hatte großes Vertrauen zu ihnen und wollte sie eigentlich nie verlieren. Aber irgendwann enden Lebensabschnitte, und das Beste, was die Menschen einem mitgeben können, sind schöne Erinnerungen und ein paar Fertigkeiten.

Heute trage ich die Verantwortung für das geografische Gerüst von 150 Kindern. Woran sollen sie sich einmal erinnern, wenn sie an mich denken? Ich hoffe, nicht daran, dass sie im Corona-Jahr drei Geografielehrer in einem Schuljahr hatten, und als Drittes kam eine kleine hyperaktive Frau, die wie Ofenruß hieß und die dauernd Spiele, Experimente und Gruppenarbeiten gemacht hat. Obwohl es sicher Schlimmeres gibt.

All jene, die nicht als Lehrer in meinem Leben eine Rolle spiel(t)en, möchte ich allerdings nicht unter den Teppich kehren. Es sind ihrer viele, und ich gehe von ihnen beeinflusst durchs Leben.  Sie lassen mich von ihrem Licht kosten, lassen mich sein, wie ich bin - mit meinem Esprit und ohne die ruhige Eleganz einer heutigen Frau von Welt. Auch wenn ich mich oft genug von dieser Zeit, dieser Welt zurückziehe, weiß ich: Wir gestalten unser Leben miteinander. Ich profitiere von ihnen und dass sie von mir profitieren, lerne ich nun auch langsam (auch wenn ich es noch nicht glauben kann).  "Netzwerk" ist nur ein Wort, aber die Energie, die da hin- und herfließt, wird mir immer erst deutlich, wenn ich mir ausmale, was mir fehlen würde, wenn dieser Mensch nicht da wäre.

Ein Lied bringt dieses Gefühl der Verbundenheit sehr gut zum Ausdruck - es mag als Liebeslied geschrieben sein, aber wenn man den Schmalz wegdenkt, ist es ein wirklich ergreifender Song über Nähe zwischen den Menschen. In der zweiten Strophe heißt es:

Let me enter your light
Wanna show you my passion
We can make each other happy if we get it right

Menschliebe, Licht und Glück - dieser Blogbeitrag ist nun am Ende doch weihnachtlicher geworden als geplant. Angesichts der Pandemie habt ihr bestimmt nicht gedacht, dass ich aus den händchenhaltenden Kästner-Kindern Pünktchen und Anton diese Predigt über Lehrerpersönlichkeiten und menschliche Nähe schreibe. Aber so entwickelt sich manchs eben. Und ich habe etwas gelernt während der letzten Stunde: Ich habe schon etlichen Menschen vertraut, und meistens hat es sich gelohnt, und manchmal sogar richtig, richtig viel. Und ich will denen, die ich noch nicht aus den Augen verloren habe, gerne sagen, was sie mir bedeuten. Heute hier, morgen dort. Dem Lateinlehrer habe ich übrigens vorigen Monat mal meine Reverenz erwiesen, und er hat sich "tierisch gefreut". Punkt, Punkt, Pünktchen.